Kurbjuweit, Dirk
könnte, zu wenig abenteuerlich, die Fortsetzung des
Kasernenlebens mit mehr Staub. Und es gab noch einen unschönen Gedanken. Sie
dachte, dass man für sechs Monate Afghanistan ein Zuhause brauchte, einen Ort,
an den man gerne dachte und zurückkehrte. Sie hatte jetzt ein eigenes Leben,
aber sie hatte kein Zuhause. Ihre Wohnung in Munster war es nicht, weil zu
einem Zuhause ein Mensch gehörte, dachte sie. Und da war niemand, die Wohnung
war immer leer, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte keinen festen Freund, ihre
Bekannten waren ein Zeitvertreib für Kneipen. Sie konnte sich nicht
vorstellen, einen Heimaturlaub bei ihren Eltern zu verbringen, ein paar Tage
vielleicht, dann würde sie genug haben von der Feindschaft ihres Vaters gegen
die Bundeswehr, die Bundesrepublik. So kam sie auf Thilo und Greta. Ihr fiel
ein, dass sie gerne in deren Haus gewesen war und nicht nur wegen Thilo. Sie
mochte die Konstellation, Vater, Mutter, Kinder und hatte Greta oft in Gedanken
gegen sich ausgetauscht. Plötzlich fehlte ihr etwas, Familie, Heimat, und sie
vermisste Thilo, vermisste Henriette, vermisste Paulus, vermisste Greta, ja,
irgendwie auch Greta. Nachdem sie den Gedanken eine Weile mit sich getragen
hatte, rief sie Thilo an. «Hallo, hier ist Esther.»
«Esther.»
«Wie geht
es dir?»
«Wie geht
es dir?»
Sie hatten
es gleichzeitig gesagt.
«Gut, ich
bin Soldatin», sagte sie.
«Soldatin?
Du trägst gerade eine Uniform?»
«Ja.»
Es war
Mittagspause. Sie erzählte ihm, was sie inzwischen erlebt hatte, dann erzählte
er. Die Finanzierung für den Film über die Riefenstahl war noch nicht gesichert,
aber beim «Landpfarrer» gab es Fortschritte. Den Kindern ging es gut, Greta war
schwanger. Sie sprachen eine halbe Stunde. Zwei Tage darauf rief er an und lud
sie nach Berlin ein, auch Greta würde sich freuen.
«Weiß sie
es?»
«Ja, dein
Verschwinden war schwerer zu erklären als dein Auftauchen.»
Zwei
Wochen später traf sie in Berlin am Bahnhof ein. Thilo, Greta und die Kinder
holten sie ab. Esther reichte Greta die Hand, wurde aber umarmt. Im Auto
stockte das Gespräch, bis Paulus fragte, ob sie ein Gewehr dabeihabe, und sie
sagte, ja, das sei aber sehr klein, so lang wie ein Finger nur. Er wollte es
sehen und turnte auf ihr herum, um sie zu durchsuchen. So kamen sie lachend bis
Sacrow. Beim Abendessen erzählte sie ausführlich von ihrem Leben bei der
Bundeswehr und von der Aussicht, bald nach Afghanistan zu kommen.
Beim
Frühstück am nächsten Morgen sagte Thilo, er habe die ganze Nacht nicht
schlafen können, weil er an einen Spielfilm über Afghanistan denken musste.
«Er wühlt
sich nachts zu seinen Filmen», sagte Greta.
«Die
Geschichte spielt im Jahr 2022», sagte Thilo, «die Bundeswehr ist immer noch in
Kunduz. Die Soldaten haben einen Wall um die Stadt gezogen, mit vier Toren,
in jeder Himmelsrichtung eines. Sie verlassen Kunduz nie, außer zu
Strafexpeditionen gegen die Taliban, die immer wieder mit Raketen angreifen und
Selbstmordattentäter schicken. In der Stadt herrscht tyrannisch der deutsche
Kommandeur, er hat einen Harem mit den schönsten Mädchen der Gegend und
bereichert sich am Drogenhandel mit den Nomaden, die vor den Toren in Zelten
hausen. Es ist unerträglich heiß, und dauernd gibt es Sandstürme. Nach den
Sandstürmen kommt der Regen, tagelang Regen, die Stadt versinkt im Schlamm.
Die Einheimischen sind kein Problem, da finden wir in Marokko genug Leute mit
den richtigen Gesichtern. Das Problem sind die deutschen Soldaten, mit unseren
verwohnten Bengels aus Gütersloh und Baden-Baden kann man das nicht machen,
die sehen ja mehr aus wie Mädchen als wie Männer. Wir müssen auf dem Balkan suchen
oder in der Ukraine, vielleicht auch in Weißrussland. Da gibt's noch
Gesichter, die Entbehrung zeigen und Verrohung, wir nehmen am besten
weißrussische Bauern, die spielen dann unsere Soldaten, Killer, das müssen
richtige Killer sein, einerseits abgestumpft vom Leben in der grauenhaften
Stadt, von den dreckigen Huren, den Krankheiten, den Raketen und Selbstmordattentätern,
aber sobald sie einen Taliban riechen, sind das selbstverständlich
Mordmaschinen. Gut, so sieht das aus, irgendwas zwischen «Mad Max» und
«Waterworld», «Waterworld» ohne Wasser. Hin und wieder gehen wir nach
Deutschland, nach Berlin, und der Clou ist, dass wir für die Männer dort auch
weißrussische Bauern nehmen oder besser ukrainische, die leben nicht ganz so
entbehrungsreich, aber immer noch
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