Kurbjuweit, Dirk
Videos im Internet, es gab in dieser Welt nur noch vertraute
Orte. Dann hörte sie Vögel zwitschern. Sie war überrascht. Vögel hatte sie hier
nicht erwartet.
Sie
erlebte die Lächerlichkeit eines ersten Tages noch stärker als sonst. Wenn man
bei der Bundeswehr neu ankam, wurde man behandelt, als sei man eben geboren:
Die, die schon da waren, erklärten einem die Welt als ihre eigene Erfindung,
sie war also einmalig, exklusiv und mit den hergebrachten Erfahrungen nicht zu
durchschauen, nicht zu verstehen, nicht zu beherrschen. Meister und
Grünschnabel, das war die Hierarchie eines ersten Tages. Sie ertrug das
stoisch, mit der inneren Vereisung, die ihr das Leben in den letzten zwei
fahren erträglich gemacht hatte. Man zeigte ihr die Computer, ihren
Arbeitsplatz, der angenehm kühl war.
Abends
räumte sie ihren Spind ein und erzählte den beiden Frauen, mit denen sie die
Stube teilte, ihren Weg hierher. Sie machte es kurz, und als sie fertig war, erzählte
die eine, die Ina hieß, ihre Geschichte und dass sie aus Jena komme und ein
Kind habe, das vier Jahre alt sei. Ihr Mann habe für ein halbes Jahr
Erziehungsurlaub genommen. Esther verstaute ihre Socken und fragte, wie es für
Ina sei, ihr Kind ein halbes Jahr lang nicht sehen zu können.
«Hast du
das die Männer hier auch gefragt?», blaffte Ina sie an.
Esther
erschrak, legte die Socken ab, drehte sich um und sah in ein höhnisches
Gesicht. Ina war Mitte dreißig, schätzte Esther, schwarze Haare, wahrscheinlich
gefärbt, eine alte französische Frisur, ungefähr wie Mireille Mathieu, das
Gesicht flächig, ein bisschen breit, nicht unhübsch, schön jedoch nicht, die
Lippen sehr dick, vielleicht aufgespritzt, leichter Hang zum Doppelkinn, was
nicht an Übergewicht lag, das hatte sie nicht, große, runde Augen, wach, gut
geschminkt, die Nase lag mehr im Gesicht, als dass sie hervorstand. Forcierte
Weiblichkeit, dachte Esther, wie es sie oft gab bei Soldatinnen.
Ina war
Oberstabsärztin und fuhr auf einem Schützenpanzer vom Typ Fuchs, der wie ein
Notarztwagen ausgestattet war. Sie gehörte zu einem Zug von Infanteristen, die
für den Schutz da waren, Krieger, die sofort ausrücken würden, wenn es Kämpfe
gäbe. Aber Ina war noch nie in einen Kampf ausgerückt.
Esther
hatte ihre Frage nicht böse gemeint, sie fand, dass es eine naheliegende Frage
war.
«Nein»,
sagte sie.
«Siehst
du», sagte Ina.
Esther
wusste erst nicht, was dieses «siehst du» heißen sollte, bekam aber, bevor es
ihr selbst eingefallen war, in einem langen Vortrag zu hören, dass Mütter, die
nicht den ganzen Tag bei ihren Kindern seien, für Verbrecherinnen gehalten
würden, während bei Vätern eine solche Abwesenheit selbstverständlich kein
Problem sei.
«Ich habe
nicht gesagt, dass ich dich für eine Verbrecherin halte», sagte Esther, nun
auch etwas patzig.
«Komm mal
runter», sagte Maxi, nicht zu Esther, sondern zu Ina.
Maxi war
Hauptfeldwebel bei den Kampfmittelbeseitigern. Sie war groß, breit und hatte
einen dicken Hintern. Ihr Haar trug sie an den Seiten extrem kurz rasiert, über
die Mitte lief vom Hinterkopf bis zur Stirn ein breiter Streifen in halber
Streichholzlänge. Maxi hatte ein Gesicht, in das sich auch eine Frau hätte
verlieben können, dachte Esther, und das war die freundlichste Art, wie sie es
beschreiben konnte. Herb und bullig war es, jedenfalls für eine Frau, aber
diese Wörter trafen es nicht richtig. Das Seltsame war, dachte Esther nach dem
zweiten oder dritten Blick, dass Maxis Gesicht dazu einlud, sie als Mann zu
betrachten, und dann wäre man auf Wörter gekommen wie weich, lieblich. Maxi
war etwas Eigenes, und wenn man sich von der Frage löste, ob sie als Frau oder
Mann zu betrachten war, dann konnte man ein freundliches Gesicht sehen,
gemütlich fast, und es gab definitiv einen Zug, der dazu aufforderte, seinen
Trost in dieses Gesicht zu sprechen. Blieb die Frage, wofür Maxi getröstet
werden wollte. Sicherlich nicht für ihre Brüste, dachte Esther, die hätte sie
auch gerne gehabt, anders als Inas, wie sie schon nach einem ersten Blick auf
deren olivgrünes T-Shirt sehen konnte. Oder doch dafür? Ein Gesicht wie das von
Maxi lud rasch zu kruden Spekulationen ein.
«Es nervt
einfach», sagte Ina.
«Tut mir
leid», sagte Esther.
«Ihr tut
es auch leid», sagte Maxi.
«Entschuldigung»,
sagte Ina.
Esther und
Ina lächelten sich an, etwas unsicher, was sie voneinander halten sollten.
Esther packte weiter ihren Sack aus und hörte dabei
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