Kurbjuweit, Dirk
sie, und diese
Wendung überraschte Esther.
«Er macht
es mir erst mit der Nase, und dann leckt er mich so, als wolle er meine Möse
verschlingen. Ich mag das.»
Maxi sagte
nichts, Esther auch nicht.
«Er ist
wirklich ein guter Vater», sagte Ina, und das hatte sie schon oft gesagt.
Mit der
Zeit stellte sich bei Esther das Gefühl ein, sie hätten ein gemeinsames Kind,
weil Ina so viel davon erzählte und sich auch Ratschläge holte. Wenn sie allerdings
den Rat, den Esther oder Maxi gegeben hatte, ablehnte, fügte sie hinzu, dass
es ein großer Unterschied sei, ob jemand ein Kind habe oder nicht. «Das ist
eine völlig andere Welt», sagte sie. Trotzdem fragte sie beim nächsten Mal
wieder.
Konvois
trafen ein, Konvois fuhren hinaus. Staub wirbelte auf, Staub legte sich,
Bierwurst zum Frühstück, Bierwurst zum Abendbrot, der Geruch von Desinfektionsmitteln
an den Händen, der Geruch von Waffenöl. Gelber Sand, gelbe Mauern. Heiß war es
immer, morgens, mittags, abends. Durchs Lager gehen, am Computer sitzen,
grüßen, gegrüßt werden. Auf die Uhr gucken. Nie kam Esther heraus, ihr Leben
spielte sich in den Rechtecken ab, aus denen dieses Lager gebildet war, drum
herum die Mauer. Draußen der Feind, aber wo? Was tat er, außer Stunden in die
Länge zu ziehen?
Möglichst
wenig auf die Uhr gucken. Das war das Rezept für einen halbwegs erträglichen
Tag. Man konnte sich überlisten und die Armbanduhr auf der Stube lassen. Doch
dann verrenkte man den ganzen Tag den Kopf, um auf die Uhren anderer Soldaten
zu schauen. Also nahm Esther ihre Uhr mit und kämpfte dagegen an, oft
hinzugucken. Sie wartete, wartete, wartete, bis wirklich eine halbe Stunde
vergangen sein musste, ohne Zweifel, aber es waren nur zwanzig Minuten, in Wahrheit,
um genau zu sein, achtzehn Minuten und vierzig Sekunden. Sie guckte bald
wieder, aber es waren wirklich erst knapp fünf Minuten vergangen. So zerhackte
sie die Stunden und brachte eine nervöse Unruhe in diese Tage der Ruhe.
«Seltsam,
dass Ruhe Unruhe erzeugt», sagte sie abends zu Maxi und Ina.
Manchmal
fühlte sie sich wie ein Kind, weil Langeweile für sie eigentlich eine
Kindersache war. Kindheit, das waren die Jahre, in denen einem die Souveränität
über die Zeit fehlte. Andere bestimmten, die Eltern, die Lehrer, und sie
muteten einem dauernd Wartezeiten auf das nächste interessante Ereignis zu, das
Ende des Schultages, die Fahrt zum Strand. Als sie sechzehn wurde, hörte sie
auf, sich zu langweilen. Sie war von da an immer in der Lage, die Dinge zu
tun, die ihr gefielen. Die Zeit der Untätigkeit hatte jetzt einen anderen
Namen: Muße. Anders als die Langeweile war sie frei von Zwang und manchmal
erstrebenswert. Das Lager hier machte aus Muße erneut Langeweile und versetzte
Esther in den Zustand kindlichen Missvergnügens.
Dann
wieder fühlte sie sich wie eine Greisin. Diese gedehnten, klebrigen Stunden in
der Hitze, diese Langsamkeit, dieser Stillstand, so mussten sich die letzten
Tage anfühlen, die Stunden, die in den Tod mündeten. Beklommen nahm sie die
Trägheit wahr, die sich ihres Körpers bemächtigt hatte. Sie fühlte ihren Puls,
erschrak, fühlte noch einmal. Da fand sie ihn, ein schwaches Pochen, nicht so
spitz wie sonst, sondern rund, abgeflacht, kein Signal von Vitalität, sondern
eher eine Aufforderung, sich nicht mehr um dieses Leben zu bemühen. So
pendelte sie zwischen Kindlichkeit und Vergreisung und lebte ohne ihr eigenes
Alter.
Eines
Nachmittags traf ein Konvoi mit Amerikanern in Kunduz ein. Sie kamen in
Humvees, und niemand wusste, wozu sie da waren und wie lange sie bleiben
würden. Esther kriegte zunächst nichts von ihnen mit, sie sah nur, dass ein
paar deutsche Soldaten um die Fahrzeuge der Amerikaner herumstanden. Am Abend
ging sie ins Lummerland, wo sechs Amerikaner in den Sofas und Sesseln der
hinteren Ecke saßen und Dosenbier tranken. Die meisten waren Schwarze. Zwei
standen an der Theke und redeten mit Deutschen, die sie dicht umdrängten. Wenn
Esther das richtig sah, fragten die Deutschen, und die Amerikaner gaben lange
Antworten. Sie setzte sich zu einer Gruppe von Offizieren, die darüber
sprachen, was es heißen könne, dass ein Konvoi von Marines in Kunduz
eingetroffen war. Seit dem Nachmittag schwirrte das Lager vor Gerüchten. Ein
Oberleutnant sagte, dies sei ein ganz schlechtes Zeichen.
«Warum?»,
fragte ein Hauptmann.
«Wenn
Amerikaner hier sind, dann sind auch Taliban da. Die Amerikaner kommen nur, um
Taliban zu
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