Kurbjuweit, Dirk
Blättern
gehört.
«Ein paar
Tage später verschwand ein Baby. Die Frau eines anderen Traktoristen, die
selbst Traktoristin war, hatte es im Garten schlafen lassen, es war ein
schöner, warmer Tag. Die Kinder, die auf der Dorfstraße spielten, hörten ihr
Schreien und rannten zu ihrer Kate. Auf dem weißen Kissen des Körbchens, das im
Gras gelegen hatte, war Blut. Ich fing mir einen triumphierenden Blick vom Sohn
des Traktoristen ein. Aber der Marderhund ist doch nachtaktiv, stieß ich
hervor. Das wurde nicht weiter beachtet. Eine Blutspur führte zum Feld, verlor
sich dort aber. Eine erste Suchaktion der Leute von der LPG verlief ergebnislos.
Wissen Sie, was eine LPG ist?»
Er nickte,
fast ein bisschen empört, dass sie unterstellen konnte, er wisse nicht, was
eine LPG ist. Esther war dankbar für diese kleine Gemütsregung.
«Beim
Abendbrot hatte ich erstmals Zweifel, ob meine Mutter wirklich so viel über
Tiere wusste. Zwar konnte es auch ein wilder Hund gewesen sein, wie meine Mutter
sagte, oder ein Fuchs, aber ein Marderhund, der größer war als ein Wolf, lag
dann doch näher als Täter. Das musste ich mir nun eingestehen, sagte aber nichts.
Am nächsten Tag fanden Volkspolizisten, die einen Spürhund dabei hatten, die
Überreste des Babies. Der Sohn des Traktoristen sagte, da habe nur noch ein
Skelett gelegen. Zwar fand man Tierhaare zwischen den Knochen, sie wurden aber
nicht untersucht, jedenfalls traf nie ein Untersuchungsergebnis in der Siedlung
ein. Die nächsten Wochen waren trostlos, wegen der Trauer um das Baby und weil
viele Eltern ihre Kinder nicht mehr raus ließen, aus Angst vor dem Marderhund.
Ich durfte raus, weil meine Mutter nicht an die Grässlichkeit des Marderhunds
glaubte, und die ganze Sache für einen Fehler der Traktoristin hielt. Wie
konnte sie ihr Baby alleine lassen, wo jeder wusste, dass es hier Füchse gibt.
Nach einer Weile war die Sache vergessen, außer in der Traktoristenfamilie,
die ihr Baby verloren hatte.
Ein paar
Jahre später, als ich in den Abendstunden durch den Wald lief, begann es
plötzlich heftig zu regnen. Ich galt als besonders talentiert für
Mittelstrecken und trainierte regelmäßig, auch nachdem die DDR verschwunden
war. Ich stellte mich unter einen Baum, Wasser tropfte mir von den Blättern
auf den Kopf und auf die Schultern, ich fror. Plötzlich sah ich ein Tier, das
genauso aussah, wie meine Mutter es beschrieben hatte: einen halben Meter
lang, schwarzbraunes Fell, helle Schnauze, schwarze Nase, einem Waschbären
nicht unähnlich. Es war ein Marderhund, eindeutig. Er stand nur wenige Meter
entfernt im Unterholz und starrte mich an. Er war zu klein, um Angst vor ihm zu
haben, aber ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass ein Marderhund ein Baby
verschleppen und fressen konnte.»
Sie war
fertig mit ihrer Geschichte, sie hatte den Marderhund in eine halbe Stunde
verflossene Zeit verwandelt, das war nicht schlecht. Sie erzählte noch ein
bisschen von der Landschaft auf Rügen, von den Tieren, vor allem den Fischen
der Ostsee, Flundern und Dorsche, über die sie durch ihre Mutter viel wusste.
Nach einer Stunde stand sie auf und verabschiedete sich vom Schuldirektor. Wie
immer nickte er nur. Dann ging sie hinaus, nicht unzufrieden. Er hatte nicht
einmal in seiner Kladde geblättert.
Als Ina am
Abend auf die Stube kam, warf sie ihre Schutzweste auf den Boden und den
Stahlhelm hinterher, so dass es schepperte. Sie ließ sich auf das Bett fallen,
zog die Beine bis an die Brust und schluchzte. Maxi setzte sich neben sie. «Was
ist passiert?»
Eine Weile
schwieg Ina, schluchzte nur. Dann richtete sie sich auf und rief, beinahe
kreischend: «Es geht los, es wird geschossen.»
Esther
sprang auf, setzte sich zu Maxi und Ina aufs Bett. Sie war ungläubig,
euphorisch, verstört, alles zusammen. «Erzähl endlich», sagte sie.
«Krieg,
ich erzähl euch was vom Krieg», sagte Ina. «Also, wir sind da draußen, und dann
stoppt der Konvoi, über Funk kommt, dass sie kurz Halt machen, aber sie sagen
nicht, warum, und wir warten, und dann hören wir einen Knall. Und klar, das war
ein Schuss, und sofort wird über Funk mitgeteilt, dass wir einen Verwundeten
haben, wir hören weitere Schüsse, der Sani, meine Lena, läuft vor, und dann kommen
sie schon mit der Trage, ich raus aus dem Fuchs, vorne wird immer noch
geschossen, Oberfeld Matthiesen liegt auf der Trage, Bauchschuss, das sehe ich
gleich, und ich dirigiere sie um den Fuchs herum, auf die andere Seite,
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