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Kurbjuweit, Dirk

Kurbjuweit, Dirk

Titel: Kurbjuweit, Dirk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kriegsbraut
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wenn sie keine
mehr hatte, sagte er nichts. Tee stand nicht mehr auf seinem Schreibtisch, der
zweite Stuhl war verschwunden. Esther hatte angefangen, sich nach seinem Leben
zu erkundigen, aber er gab keine Auskunft. Wenn er nicht reden wollte, konnte
er kaum Russisch. Sie setzte sich auf den Boden, streckte die Beine aus, lehnte
den Rücken gegen die Wand. Das Gewehr lag auf ihren Oberschenkeln. Sie würde
nicht weichen. Sie hatte einen Auftrag, und der war zu erfüllen, keine Frage.
Aber es war grauenhaft, unerträglich. Ein Krieg, hatte sie immer gedacht, ist
laut, nun starb sie an der Stille. Gleichwohl konnte sie den Schuldirektor
nicht hassen. Er hatte eine schöne, sanfte Art mit den Kindern zu reden, die in
sein Zimmer kamen. Warum redete er nicht so mit ihr?
    Die
Farblosigkeit in den Bergen ging ihr auf den Geist. Es gab nichts, was das Auge
beschäftigen, erfreuen konnte. Fels, Sand, Geröll, manchmal gelbbraune Sträucher,
trostlos trocken. Dies war die nackte Haut der Erde. Bedrückt schaute sie durch
die Frontscheibe, die voller Staub war, sodass alles fleckig und unwirklich
wirkte.
    Alte Filme
sahen so aus oder Filme mit Wasserschäden, gelbstichig, undeutlich. Man fuhr
und sah sich in einen langen Stummfilm versetzt. Die Welt von früher. Aber es
gab keine kalte Cola, kein Eiskonfekt. Sie hatte schweißige Haut, verklebte
Augen, eine verstaubte Mundhöhle. Sie konnte es nicht fassen, dass das, was
ihre Langeweile hatte besiegen sollen, eine neue Langeweile gebar, unangenehmer
noch, weil das Lager dann doch ein paar Bequemlichkeiten bot. Immerhin gab es
manchmal Wolken, sie freute sich über Wolken, sie waren Abwechslung, Bewegung.
Morgens stand manchmal über den Bergen Hochnebel, aus dem Wolkenungetüme
wuchsen, die sich an den Rändern kräuselten wie alte Perücken. Sie war ein Kind
vom Meer, und das Spiel, Wolken zu deuten, war ihr vertraut. Man konnte hier
leicht eine Raumschiffarmada wie in «Star Wars» erkennen, aber lustiger,
anspruchsvoller war es, barocke Hofschranzen aus der Zeit des Sonnenkönigs zu
sehen. An den schlimmen Tagen erkannte sie gigantische Krebswucherungen.
Einmal türmten sich unten die Wolken, und darüber breitete sich der Hochnebel
aus. Der Himmel steht köpf, dachte Esther, und das beunruhigte sie.
     
    An einem
der Abende redeten sie über Hauptmann Ritter von Erpp. Er war ihnen aufgefallen,
weil er so gut, so schneidig aussah, und wegen des Namens natürlich. Sie malten
sich eine Burg aus am Rhein, aber dann redete nur noch Ina, weil sie so tat,
als sei sie vertraut mit ihm. Sie wusste, dass er vier Kinder hatte und die
beiden älteren manchmal schlug, was Ina falsch fand.
    «Was weißt
du schon von Kindern?», sagte Maxi.
    Esther war
überrascht, dass sie das sagte, und verstand nicht, was sie meinte. Ina war
wahrscheinlich noch mehr überrascht. Für einen Moment herrschte Schweigen,
dann sagte Ina: «Mehr als du, du weißt ja nicht mal was von Männern.»
    Esther
dachte das auch, aber sie hätte es nie erwähnt, weil Maxi dieses Thema nicht
ansprach. Lesbisch war ohnehin nicht das Wort, das sie mit Maxi verband, eher
schwermütig, schweigsam, bedrückt. Sie wollte, dass Ina diesen Satz nicht
gesagt hätte, dass er nur ein böser Traum von ihr war, geboren aus Hitze,
Agonie und einem Himmel, der manchmal auf dem Kopf steht. Die einzig angenehme
Zeit des Tages waren diese Stunden auf der Stube, sie durften ihr nicht
verlorengehen. Aber ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können und schwieg
wie die anderen. Sie schlief ein, wachte aber bald auf, weil sie ein leichtes
Kitzeln auf dem Bauch spürte; Fliegenfüße, dachte sie und schlug sofort zu,
traf aber nicht. Sie meinte ein Fliegensurren zu hören, schlief wieder ein,
dann erneut ein Kitzeln, diesmal auf der Schulter. Sie wedelte mit der Hand,
ohne die Augen zu öffnen. Sie nahm ihre Decke und zog sie bis zum Kinn, aber
bald war ihr heiß, trotz der Klimaanlage. Sie stieß die Decke weg, die Fliege
setzte sich auf ihre Wade. Ein Strampeln, die Fliege flog davon. Sie fragte
sich, wo sie herkam. War sie von hier? War sie in eine Kiste geraten und mit
der Luftwaffe hergeflogen? Dann saß die Fliege wieder auf ihrem Bauch, sie sah
den schwarzen Knopfkopf, die beiden silbrigen Flügel. Die Fliege rieb ihre
Vorderbeine seltsam gegeneinander, als würde sie sich putzen. Esther schlug
zu, aber sie traf wieder nicht. Sie hasste dieses Tier, hasste es abgrundtief.
Sie dämmerte weg, hörte kurz darauf ein Krachen und sah

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