Kurbjuweit, Dirk
einen Stiefel über den
Boden rollen. Ina hatte ihn geworfen. Sie waren jetzt alle drei wach, saßen auf
ihren Betten und schlugen um sich, mit kreisenden, wedelnden Armen, als wären
sie Windmühlen mit einer schweren Unwucht. Maxi sprang auf und klatschte ihr
T-Shirt gegen die Wand.
«Scheiße»,
sagte sie.
«So geht
das nicht», sagte Ina.
Sie
übernahm das Kommando, sie war die Ranghöchste. Sie verteilte Esther und Maxi
im Raum und gab Befehle, wer wann mit seinem T-Shirt wedeln oder zuschlagen
musste. Die Idee war, dass Ina und Esther die Fliege zu der still auf ihrem
Bett liegenden Maxi treiben sollten, weil ihr der schnellste Schlag zugetraut
wurde. Sie trugen nur Unterhosen und flüsterten. Ein paar Versuche schlugen
fehl, dann erwischte Maxi die Fliege mit der flachen Hand. Sie versammelten
sich an ihrem Bett, das Tier lag zerquetscht auf dem Laken. Maxi schnipste es
hinunter. Sie klatschten ab und legten sich wieder in ihre Betten.
«Es tut
mir leid, Maxi», sagte Ina.
«Macht
nichts», sagte Maxi.
Am
nächsten Tag fragte sie den Schuldirektor, ob er wisse, was ein Marderhund ist.
Das russische Wort dafür hatte sie im Wörterbuch nachgeschlagen. Er nickte,
aber sie hielt es für ausgeschlossen, dass er sich ihr gegenüber eine Blöße
geben würde. Wahrscheinlich wusste er es nicht, dachte sie.
«Ich
erzähle Ihnen etwas vom Marderhund meiner Kindheit», sagte sie.
Er nahm
das ausdruckslos auf, wie eigentlich alles, was von ihr kam.
«Es begann
damit», sagte sie, «dass das Gerücht umging, Marderhunde seien aus Polen
eingewandert. Der Sohn eines Traktoristen erzählte das an einem Nachmittag,
als wir durch unseren Wald streiften. Niemand hatte bis dahin dieses Wort
gehört, also wusste auch niemand, was ein Marderhund ist. Der Sohn des
Traktoristen hatte daher leichtes Spiel mit seiner Phantasie. Der Marderhund
ist kleiner als ein Bär, aber größer als ein Wolf, sagte er, schwarzes,
zotteliges Fell, spitze Zähne, gelbgrüne Augen. Bei Greifswald habe eine Horde
Marderhunde einen Forstarbeiter angefallen und tödlich verletzt. In einem
Dorf zwischen Greifswald und Stralsund werde seit einer Woche ein Kind, das
schon zehn ist, vermisst. Die Tochter unseres Lehrers warf ein, dass sich ein
Marderhund niemals über die Brücke vom Festland nach Rügen trauen würde, wegen
der Autos.»
Beim Wort
Lehrer sah sie den Schuldirektor an, ob er aufgemerkt habe, aber er blickte
weiterhin auf eine Kladde, die aufgeschlagen vor ihm lag.
«Die Rehe
haben sich ja auch getraut, sagte der Sohn des Traktoristen», erzählte Esther
weiter. «Das Argument war schlagend, wir Kinder sahen beinahe täglich Rehe auf
Rügen. Einmal war aus Berlin eine Kolonne schwarzer Limousinen vorgefahren, und
die Männer, die ausstiegen, waren gekommen, um Rehe zu schießen. Also wussten
sie es sogar in Berlin. Wir hatten keine Lust mehr, uns in einem Wald
herumzutreiben, wo es Marderhunde gab, die Forstarbeiter reißen konnten. Wir
gingen zu den Häusern zurück, das heißt, erst schlenderten wir wie zufällig
los, dann gingen wir zügig, am Ende war es Laufschritt. Wir versammelten uns an
einem Gartenzaun und hielten den Rest des Tages Ausschau, ob ein Marderhund
auftauchen würde. Es kam keiner. Abends erzählte ich meinen Eltern von dem
grauenhaften Tier, das schon mindestes zehn Menschen gerissen habe. Meine
Mutter ist Biologin, eigentlich Meeresbiologin, aber sie kennt sich auch mit
anderen Tieren aus und sagte, der Marderhund werde höchstens einen halben
Meter lang, er komme ursprünglich aus Ostsibirien, das Fell sei schwarzbraun,
er habe eine helle Schnauze und eine schwarze Nase. Ein bisschen sehe er aus
wie ein Waschbär, sei aber nicht so rundlich und könne nicht klettern. Er sei
nachtaktiv und ernähre sich von Nagetieren, Vögeln und Fischen. Er belle
nicht, wie sein Name nahelege, sondern miaue.
Ich war
beruhigt, hatte am nächsten Tag aber keinen Erfolg mit meiner Geschichte. Ein
Hund, der miaue, das sei doch Blödsinn, sagte der Sohn des Traktoristen. Das
war ein Argument, das allen einleuchtete. Meine Mutter sei ja auch eine
Fischfrau, ergänzte sein jüngerer Bruder. Alle lachten. Ich stapfte davon, in
den Wald, das war ich der Ehre meiner Mutter schuldig. Dort verbrachte ich den
halben Tag, nicht allzu weit von den Häusern entfernt, und grollte. Ein
bisschen Angst hatte ich auch, aber das lag an den Wildschweinen, ganz
bestimmt.»
Sie
lächelte. Der Schuldirektor sah in seine Kladde. Esther hatte kein
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