Kurbjuweit, Dirk
wieder ein anderer Soldat
Erfolg bei einer Soldatin hatte. Der war ja zumindest prinzipiell ähnlich, ein deutscher
Mann eben. Aber ein Afghane? Viele verachteten oder hassten Afghanen, das
wusste sie, die Rede von der Brüderlichkeit war aufgesetzt, wenn nicht
verlogen.
Über diese
Gedanken geriet Esther in einen Sog der Angst. Die Strafe würde fürchterlich sein,
nicht nur die offizielle. Unehrenhafte Entlassung, das war klar. Sie wusste
nicht, was sie dann machen würde. Woher ein anderes Leben nehmen? Aber
schlimmer war die Vorstellung, dass jemand die Sache einer Zeitung stecken
würde. Sie steigerte sich ins Irrationale, sah die Schlagzeilen und erfand
Wörter, die sie verletzen würden. Verräterin, Kriegsbraut, Kriegshure, fielen
ihr als Erstes ein, doch damit würden sie sich nicht begnügen. Talibanliebchen.
Talibanhure. Terrorbraut. Sie sah Fotos von sich, verhuscht, gehetzt, sie sah
Blicke in der U-Bahn, in Restaurants. Jemand spuckt sie an. Sie lag als
Nervenbündel auf ihrem Bett, in Schweiß gebadet, die Stube kam ihr wärmer vor
als sonst. Wegen eines Kusses könnte sie einen Großteil ihres Lebens verlieren,
die Bundeswehr, ihr Einkommen, ihre Ehre, Anonymität. Es dauerte lange, bis sie
etwas fand, das ihr Trost spenden konnte: Thilo und seine Familie, ihre Eltern,
Berlin, Rügen - all das würde bleiben. Egal, was sie getan hatte, Berlin würde
immer lebendig sein, und sie würde nach Rügen fahren können, und die Schönheit
dieser Insel wäre unverändert. Den Menschen würde sie das eine oder andere erklären
müssen, aber sie würden sie nicht fallenlassen. Ihr Vater wäre wahrscheinlich
ganz zufrieden. Sie schluckte, Tränen.
Dann
dachte sie wieder an Mehsud. Für eine Weile war er aus ihren Gedanken
verschwunden gewesen. Die Geschichte mit ihm hatte sich reduziert auf «den
Kuss», dieses körperlose Monster, das ihr Leben fressen würde. Nun wurde der
Geküsste wieder zur Gestalt, denn auch Mehsud könnte zum Bleibenden zählen. Die
Bundeswehr würde sie nach Deutschland schicken und so die Verbindung zu kappen
versuchen, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie zurückkehrte, auf eigene
Faust. Sie fand Trost im Trotz. Sie stellte sich vor, wie sie in einer kleinen
Pension lebte, unweit der Schule, eine Pension, die es vielleicht nicht gab,
aber das spielte jetzt keine Rolle. Es entwickelte sich eine große Liebe, die
allen Widrigkeiten widerstand, sie mussten sogar, in der verstiegensten
Sekunde ihrer Phantasien, einen Beschuss der Pension durch Bundeswehrsoldaten
überstehen, und dann lebte sie in dem Haus, das Mehsud hatte. Mit dieser Gewissheit
schlief sie ein.
Sie wachte
auf, weil ihr heiß war. Ina und Maxi hockten auf ihren Betten. «Die
Klimaanlage ist ausgefallen», sagte Maxi.
Gegen elf
Uhr morgens waren es vierzig Grad. Esther saß in ihrem Büro, vom eigenen
Schweiß gepeinigt, der ihren Körper in langen Rinnsalen hinunterlief. Sie hörte
großes Klagen, gegen den Oberst, gegen das Einsatzführungskommando in Potsdam,
gegen den Generalinspekteur, gegen die ISAF in Kabul, gegen die Nato in
Brüssel, gegen das Verteidigungsministerium, gegen den Verteidigungsminister,
gegen die Bundeskanzlerin, gegen den amerikanischen Präsidenten, gegen
Deutschland und dessen mangelnde Fürsorge wie Unfähigkeit in technischer
Hinsicht. Alle waren schuld an diesem Elend, nur das Lager selber nicht. Im
Lager waren alle entschuldigt. Wer einen Fehler machte, wer nicht korrekt oder
schnell genug handelte, nannte die unerträgliche Hitze als Grund. Das Tempo
jeder Verrichtung wurde gesenkt, gleichzeitig entstand eine neue
Geschäftigkeit. Die Küche verteilte ständig Flaschen mit Mineralwasser, Ventilatoren
wurden ausgegeben, und ein paar Leute wurden nicht müde, aus Tüchern und
anderen Textilien Eisbeutel zu basteln. Ein Feldwebel sagte, die Taliban
hätten die Klimaanlage angegriffen. Schlimmer könnten sie die Bundeswehr nicht
treffen. Und natürlich gab es, wie immer, Soldaten, die stolz darauf waren,
sich in widrigen Umständen zu bewähren, sich deshalb besonders flink und zackig
bewegten und allen sagten, so schlimm sei es doch nicht, in den Zelten von
Belet Huen sei es '93 viel heißer gewesen und in Rommels Wüstenkrieg sowieso.
Soldaten, die einen Schwächeanfall hatten, wurden von diesen Helden der Hitze
verachtet.
Esther
blieb von alldem weitgehend unberührt. Manchmal, wenn jemand in ihre Nähe trat
und sie unangenehmer Körpergeruch erreichte, schrak sie auf und verließ
Weitere Kostenlose Bücher