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Kurbjuweit, Dirk

Kurbjuweit, Dirk

Titel: Kurbjuweit, Dirk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kriegsbraut
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entschuldigt, man sprach neuerlich Verdammnis aus über die wahrhaft
Schuldigen, die man schon den Tag über benannt hatte. Wie unfähig die alle
waren. Um elf lagen Ina, Maxi und Esther nackt auf ihren Betten, das Gespräch
verebbte rasch. Esther versuchte den Moment zu erwischen, in dem ein
Schweißtropfen aus einer Pore drang, aber sie erwischte ihn nicht. Die
Schweißtropfen waren plötzlich da, aus dem Nichts. Sie schlief bald ein, wachte
aber wenig später von einem Kitzeln auf. Irritiert schreckte sie hoch und sah
sich um. Niemand war in ihrer Nähe. Maxi und Ina lagen auf den Betten, und
Esther brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass ihr eigener Schweiß sie
gekitzelt hatte, als er an ihrem Bauch hinuntergelaufen war. Sie ließ sich
zurückfallen, diese Nacht war verloren. Nicht schlimm, dachte sie, ein paar
Stunden mehr, um an Mehsud denken zu können.
     
    Am
übernächsten Tag, als Esther auf dem Weg zur Schule war, wünschte sie einem der
Wölfe einen Motorschaden. Die Dinger hatten doch sonst auch Probleme, warum
nicht jetzt? Sie wollte da nicht hin, auf keinen Fall. Sie hatte Angst. Was
würde dem Kuss folgen? Nur Peinlichkeit schien ihr möglich. Die Berge wirkten
bläulich in der Morgenhitze, beinahe durchsichtig, als könne dort gleich
Mullah Omars Höhlenleben sichtbar werden oder als könne man hineinfahren mit
den Wölfen und das Innere erkunden wie Ali Baba beim Berg Sesam. Nur dass sie
gar nicht hineinwollte. Schätze waren ja wohl nicht zu erwarten. Sie reagierte
unwirsch auf Taubers Versuche, ein Gespräch zu führen. Sie sah hinaus, sah einen
großen Vogel kreisen und war plötzlich ergriffen von dem Gedanken, der Vogel
könne ihre Heimat kennen, könne von Rügen hergekommen sein. Sie hatte so oft im
Herbst die Versammlung der Kraniche beobachtet, wie sie sich nach und nach auf
dem Acker hinter ihrem Haus einfanden, zu Flugübungen starteten, und das
Rauschen ihrer Flügel wurde von Tag zu Tag lauter, je mehr die Gruppe wuchs,
genauso das Schnattern. Und mit einem Mal war es wieder still, immer ein Moment
der Traurigkeit. Die Vögel waren fort, der lange Winter begann.
    Dies war
nicht die Zeit, zu der sich europäische Zugvögel in Afghanistan aufhielten,
wenn überhaupt, aber es konnte ein Zurückgebliebener sein, ein Verirrter. Sie
heftete ihren Blick an seine Schwingen und sah das, was der Vogel und sie
kannten: eine grüne Insel. Ihr liebster Blick war der vom Leuchtturm auf
Hiddensee. Ihre Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, lebte in Kloster auf
Hiddensee, und Esther fuhr oft mit dem Bus nach Schaprode und dann mit der
Fähre hinüber. Von dem kleinen Hügel, auf dem der Leuchtturm stand, sah man die
Ostspitze Hiddensees, und hinter dem kleinen Meeresstreifen sah man Rügen.
Sanft geschwungene Hügel, Heide, blassgrünes Gras, darauf dunkelgrüne
Sträucher, weiße Häuser zwischen den Bäumen, das Land franste zum Meer hin aus,
der silbrige Wasserstreifen, darauf weiße Segel, dann das grüne Rügen und
rechts davon, weit weg, die Kirchtürme von Stralsund. Es war so schön, der
Vogel wusste das. Wie traurig er sein musste angesichts dieser Ödnis.
    Esther
stellte sich Mehsud in ihrer heimatlichen Landschaft vor, sah ihn am Fuß eines
grünen Hügels einen der Kaltblüter tätscheln, die auf Hiddensee die Kutschen zogen.
Autos gab es nicht, nur ein weißer Bus fuhr manchmal die Wiesen entlang. Jetzt
winkte Mehsud, winkte hinauf zu Esther, die immer noch am Leuchtturm stand. Er
trug das lange Gewand, die Pluderhose und die kleine Mütze, die sich so eng an
seinen Kopf schmiegte. Würde er dort noch so würdig wirken, so klug und fast
weise wie in seiner Schule in den Bergen von Afghanistan, dachte Esther und war
bald in einem Zustand, dass ihr ein IED recht gewesen wäre, um ihre Ankunft an
der Schule zu verhindern.
    Er saß am
Schreibtisch, vertieft in Papiere, ein Nicken, dann las er weiter. Ihr großes
Lächeln erlosch. Unschlüssig stand sie vor dem Schreibtisch, bevor sie sich
schließlich mit umständlichen Bewegungen auf den Boden setzte. Sie glühte vor
Verlegenheit.
    «Was
machen die Schüler?»
    Er
berichtete tonlos, sah sie aber an. Nichts Besonderes passiert. Sie lächelte
wieder, süß, wie sie fand. Ich kann auch süß sein, dachte sie. Kleines Lächeln
zurück, Schweigen.
    Sie strich
über den Lauf ihres Gewehres. «Die Jungs nennen es manchmal Mädelsgewehr»,
sagte sie, «wusstest du das?»
    «Nein.»
    «Es hat
nur Kaliber 5.56, Kleinkaliber eigentlich. Die

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