Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kurier

Kurier

Titel: Kurier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berndorf
Vom Netzwerk:
Mädchen. Sie heißt Anna. Eigentlich
heißt sie nicht so, aber ich nenne sie Anna, weil ich ihr diesen Namen gegeben
hätte, wenn sie bei mir geblieben wäre.« Sie schwieg und streichelte seine
Handrücken. »Weißt du denn, wie du am liebsten leben willst?«

    »Nein.« Grau schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur eins: Ich
will kein zweites Bonn mehr. Bonn war eine ständige Anhäufung von
Mittelmäßigkeit und zweitklassigem Leben. Nie wieder!«

    »Seit Monaten denke ich nur noch an Anna«, sagte sie leise.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das quält. Ich will sie sehen.« Sie
begann leise zu weinen.

    Grau überlegte. »Das ist doch normal. Dein Leben hat sich
verändert. Aber Annas Leben darf nicht zerstört werden. Das weißt du. Sie hat
Eltern, von denen sie glaubt, sie seien ihre richtige Familie.«

    »Nur sehen, Grau!«, flehte sie gepresst.

    »Lass sie in Ruhe leben! Außerdem ist sie vom Gesetz geschützt
und hat ein Recht auf …«

    »Ich weiß, wie sie heißt und wo sie wohnt, Grau.«
    »Ist das wahr?« Grau war geschockt.

    »Ich habe einfach Sunderns Verbindungen benutzt. Und sein
Geld. Bestechung. Die Leute heißen Meier. Er ist Bankfilialleiter. Sie leben in
Wuppertal. Anna heißt Sabrina. Stell dir das vor: Sabrina!«

    Eine Weile schwiegen sie und ein aufdringliches Insekt
umkreiste schwirrend die Kerzen.

    »Lass sie in Ruhe«, sagte Grau sanft. »Niemand kann so
etwas verkraften, auch deine Anna nicht.«

    Nach einer Weile sagte sie seufzend: »Du hast sicher
recht.« Dann rieb sie sanft den Kopf an seiner Brust und schloss die Augen.

    Sie schliefen ein. Das Telefon weckte sie gegen Mitternacht.
Sundern sagte knapp und offensichtlich erleichtert: »Pedra ist im Anflug auf
Tegel. Er hat eine Sondergenehmigung, landet in einer halben Stunde. Nimm Milan
mit, holt euch ein Taxi. Du lässt dich nach Falkensee fahren, die
Schwanenstraße. Da gibt es ein Restaurant, den Abteikeller. Es gehört mir und wird geschlossen sein. Du findest
auf der Rückseite eine offene Tür. Geh einfach hinein. Bis dann.«

    Fünf Minuten später verließen sie die Wohnung und stiegen
in das wartende Taxi. Sie sprachen kein Wort miteinander und machten so den
Eindruck müder Männer, die nichts anderes wollten, als in ihr Bett fallen. Die
Fahrt dauerte vierzig Minuten. Grau gab dem Fahrer einen Zweihundertmarkschein
und brummte: »Schon gut.«

    Sie gingen hundert Meter weiter, erreichten das vollkommen
dunkle Restaurant und bogen sofort an der rechten Seite des Gebäudes in den
Hof. Die Rollläden waren geschlossen. Da war die Tür.

    »Okay«, sagte Milan. »Denk dran. Ich bin dein Schatten.«

    Grau nickte und drückte die Klinke hinunter, Milan folgte
ihm. Das Haus war innen matt erleuchtet. Überall waren Männer in Anzug und
Krawatte, die freundlich lächelten und ihnen den Weg wiesen. Er führte in den
Keller zu einer Tür, auf der Konferenzsaal stand.

    »Außer mir noch Mehmet, Grau und Milan. Sonst niemand«,
sagte Sundern knapp. »Lasst mich reden, der alte Herr ist sehr krank. Dass er
kommt, ist ein Wunder. Und das kann bedeuten, dass die Situation viel
beschissener ist, als wir ahnen. Geronimo, ist die Straße okay?«

    »Vorne und hinten je zwei Wagen, je acht Leute.«
    »Hattet ihr Schatten auf dem Weg nach Tegel?«

    »Nichts.«

    »Gut. Weiter so. Kein Aufsehen, kein Krach, nichts. Wir warten.«

    Er öffnete die Tür. Der Raum war groß, vollkommen mit
Holz getäfelt und sehr gediegen erleuchtet. Es gab nur einen langen Tisch, der
sehr niedrig war, mit großen, wuchtigen Ledersesseln darum.

    »Gut so. Stellt die Blumen weg, Pedra kann keine Blumen
vertragen.«

    Milan trug die Vase hinaus.

    »Nicht rauchen«, sagte Sundern. »Auf keinen Fall rauchen.
Keine Zwischenfragen, nichts, was ihn irritiert. Stell diesen Ventilator ab,
Grau.«

    Sie ließen sich in die Sessel sinken und warteten. Dann
öffnete sich leise die Tür und jemand schob einen Rollstuhl in den Raum.

    In diesem Stuhl saß ein alter Mann, vielleicht siebzig,
vielleicht achtzig Jahre alt. Markant war sein großer Kopf mit den langen,
weißen Haaren, die auf einen schmächtigen Körper fielen, der dieses Gewicht
wohl nicht mehr tragen konnte, denn der Kopf lag schräg auf der Lehne des Rollstuhls.
Das hagere Gesicht atmete den Tod, aber die Augen waren noch hell, und sie
wirkten heiter und ruhig. Sein dunkelblauer Anzug war ihm viel zu groß, und
offensichtlich fror er trotz der Sommerwärme. Jemand hatte ihm eine

Weitere Kostenlose Bücher