Kurier
zu sprechen. Es gelang.
»Was ist?«, fragte er. Da niemand antwortete, wiederholte
er die Frage.
»Dir geht es gut«, sagte Milan von irgendwoher. Dann
rutschte etwas über den Fußboden. Milan kam in Sicht, er bewegte sich grotesk
seitwärts mit dem Stuhl unter seinem Hintern.
»Was ist?«, fragte Grau matt.
»Es ist sechs Tage her«, sagte Milan.
»Was?«, fragte Grau. Er fing an, sich zu erinnern, aber
es war mühsam.
»Sechs Tage. Die Sache in Mehmets Wohnung«, sagte Milan.
»Mehmet. Was war mit ihm?«
»Infarkt«, sagte Milan. »Alles wieder okay. Er protestierte
sogar gegen die Ärzte, es geht ihm gut.«
»Sechs Tage?«, fragte Grau ungläubig.
Milan nickte. »Sechs Tage. Ich muss jetzt den Arzt holen.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Auch sechs Tage«, sagte Milan. »Ich bin dein Schatten.«
»Meike! Meike! Was ist mit Meike?«, schrie Grau. Tatsächlich
war es nur ein Flüstern.
»Ich hole den Arzt«, sagte Milan.
Draußen war es dunkel, als er endgültig erwachte
und nicht mehr in die ölige Suppe tauchen wollte. Milan war nicht da, aber
Sundern hockte in dem Stuhl.
»Hallo, Bruder«, sagte Grau. Er versuchte zu lächeln, aber
das klappte nicht, weil sein Mund so elend trocken war.
»Grau, Junge«, sagte Sundern und lächelte schmal.
»Sag bloß nicht auch, du holst jetzt den Arzt«, flüsterte
Grau. »Was ist?«
»Es ist sieben Tage her«, sagte Sundern sachlich.
»Wieso liege ich hier?«
»Na ja, so genau weiß das niemand. Das passierte, als wir
nicht dabei waren. Die Handgranate, weißt du. Du musst versucht haben, Meike zu
helfen. Das Scheißding hat dir ein gutes Viertelpfund Fleisch aus der Hüfte
gerissen.« Er lächelte. »Es ist alles okay, aber zeitweilig hast du uns Kummer
gemacht. Wir hocken hier abwechselnd, Milan, ich und Geronimo.«
»Meike. Was ist mit ihr? War sie … war sie irgendwie dichter
…«
»Es hat sie erwischt«, sagte Sundern ganz ruhig. »Ziemlich.
Aber sie ist schon seit drei Tagen wieder auf dem Damm und …«
»Kann ich sie sprechen? Ich meine, kann sie kommen?«
»Das geht noch nicht, Grau. Willst du was trinken?«
»O ja, bitte. Wasser. Hast du Wasser?«
»Haben wir. Hier ist das Glas. Langsam, nicht so hastig.
Ich soll mit dir umgehen wie mit einem Baby. Du warst klasse, Grau.«
»Scheiß drauf«, sagte Grau, verschluckte sich etwas und
hustete. »Wo war dieses Viertelpfund Fleisch?« Er versuchte zu grinsen.
»Links unten. Oberhalb vom Hüftknochen. Da kannst du in
Zukunft bequem ein Schoßhündchen tragen.«
»Und ich war so hübsch«, sagte Grau gegen die Decke.
»Also muss Meike noch liegen?«
»Ja.«
»Hier? In diesem Krankenhaus? Wie heißt das eigentlich?«
»Es ist eine private Klinik. Sie gehört einem Freund, ich
habe sie gebaut. Du bist der wichtigste Patient seit der Gründung. Ja, Meike
ist auch hier.«
»Kann ich zu ihr?«
»Na sicher. Wenn du aufstehen kannst. Ich gehe mal eben
pinkeln.«
»Ja, natürlich«, sagte Grau. Er starrte gegen die Decke
und hörte Geräusche, die er nicht immer identifizieren konnte. Das Klirren von
Glas, irgendjemand sagte etwas, oder es war ein Radio, eine Klingel schrillte
weit entfernt.
Sundern kam zurück und gleich hinter ihm ein junger Mann
in einem weißen Kittel. »Gebhard ist mein Name, ich habe an Ihnen
herumgeschnippelt. Wie geht es Ihnen?«
»Einigermaßen«, sagte Grau. Dann dachte er an das Viertelpfund
Fleisch und murmelte: »Leichter eben.«
Gebhard grinste jungenhaft. »Können Sie sich daran erinnern,
was Sie zuletzt gesehen haben?«
Grau kniff die Augen zusammen. »Ja. Einen Blitz. Von der
Granate.«
»Haben Sie auch die Detonation gehört?«
Grau schüttelte den Kopf. »Ich will nur wissen, wie es
Frau Kern geht. Ich meine, Meike.«
»Sie liegt ein Stockwerk über Ihnen, und sie weiß schon, dass
Sie wieder an Deck sind. So wie Sie mir geschildert wurden, werden Sie bestimmt
gleich fragen, ob Sie zu ihr ins Körbchen kriechen können.« Er lächelte.
»Richtig«, bestätigte Grau.
»Das geht nicht, Herr Grau. Sie waren ziemlich schwer
verletzt, aber Frau Kern, ich meine die Meike, hat es schlimmer erwischt.«
»Was ist mit ihr?«
»Die Granate hat ihr den linken Fuß abgerissen. Ich musste
ihn amputieren.«
»Amputieren …«, sagte Grau zittrig. Dann kriegte er keine
Luft mehr, bäumte sich hoch und wollte schreien. Er erinnerte sich später, dass
Gebhard brüllte: »Festhalten!« Dann kam der
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