Kurpfalzblues
wenn er sie hat schreiben lassen, nicht einmal die Idee zu
dieser Sache würde zu ihm passen.« Maria schnallte sich an. »Und was ist mit
Karel Lindnar? Der schreibt Gedichte an die Wand! Und er ist abgetaucht. Aber
das macht ihn in Ihren Augen wohl nicht verdächtig, was?«
»Lindnar hat nicht das Potenzial zum Täter. Rinkner schon.« Alsberger
sagte es völlig überzeugt. »Und was das andere angeht: Was hätten Sie wohl über
Ernest Hemingway gesagt, wenn er Ihnen betrunken begegnet wäre? Ein Säufer, der
keine zwei Zeilen zusammenkriegt? Soviel ich weiß, hat er den Nobelpreis für
Literatur bekommen. Sie sollten mal überlegen, wer von uns beiden die
Vorurteile hat.«
*
Maria sah auf das Bild in ihrer Hand. Alles grau in grau, ein
kleines Mädchen mit traurigen Augen, den Mund mit einem schwarzen Balken
übermalt. Ein Pflaster? Ein Klebestreifen? Ein Symbol?
Alsberger hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Nach einer
knappen Stunde hatte er das Bild aus Lea Rinkners Wohnung, nach weiteren
zwanzig Minuten saßen sie im Wagen in der Nähe von Kurt Rinkners Haus.
Sie hatten in der Klinik angerufen und erfahren, dass man Rinkner
gestern entlassen hatte. Er habe sich glaubhaft von weiteren suizidalen
Absichten distanziert.
»Das könnte auch eine Szene aus einem Film sein«, spekulierte Maria.
»Oder irgendetwas, was sie einmal gehört oder gelesen hat. Es gibt nichts, was
darauf hinweist, dass dieses Mädchen Lea Rinkner ist.«
»Und warum hängt sie es dann über ihren Küchentisch?« Alsberger nahm
Maria ungeduldig das Blatt aus der Hand. »Ich sage Ihnen, warum: Es sollte Lea
antreiben. Ihr vor Augen führen, was sie durchgemacht hat, damit sie endlich
tun würde, was sie schon seit Langem tun wollte.«
Er rollte die Zeichnung zusammen. »Also, gehen wir jetzt?«
Maria zögerte. Hatte Cloe gelogen, als es darum ging, dass Rinkner
seiner Tochter irgendetwas angetan habe? Aber warum sollte sie den Verdacht auf
Rinkner lenken?
Vielleicht um von sich selbst abzulenken?
Suchten sie am Ende doch eine Frau? Eine Mörderin?
Aber so, wie Cloe um Lea geweint hatte? Das konnte gar nicht sein.
Das hätte sie doch gemerkt, wenn das nicht echt gewesen wäre. Nein.
Unvorstellbar, dass sie etwas mit Leas Tod zu tun haben könnte.
Cloe hatte Lea über alles verehrt, Lea war ihr Halt gewesen, an den
sie sich geklammert hatte, vielleicht auch die Hoffnung auf eine bessere
Zukunft. Daran hatte Maria keinen Zweifel.
Aber es gab viele Gründe, zu lügen. Und wenn Kurt Rinkner unschuldig
war, dann war das, was sie jetzt tun würden, furchtbar. Einen Vater, der gerade
seine Tochter verloren hatte, zu verdächtigen, ihr Mörder zu sein. Und sein
Kind missbraucht zu haben. Konnte man einem Menschen mehr antun?
Nein, das wollte sie nicht. Mochte Alsberger noch so überzeugt sein,
sie war es nicht. Lindnar war geflohen. Lindnar, nicht Rinkner.
»Wir werden das Thema Missbrauch vorerst nicht ansprechen, Alsberger.
Wir werden ihn genau mit dem konfrontieren, was Cloe uns gesagt hat, und nicht
mit mehr. Sehen wir erst einmal, wie es läuft.«
»Aber …«
»Nichts aber.« Maria schlug die Autotür zu. »Keine Diskussionen
mehr.«
Eine Katze lief über die Straße und schaute angstvoll zu ihnen,
bevor sie mit einem großen Satz auf eine Mauer sprang und dahinter verschwand.
Der Himmel hatte sich zugezogen, ein erdrückendes graues
Wolkengemenge, das die Sonne nicht einmal mehr erahnen ließ.
Rinkners Haus erschien Maria noch trister als beim letzten Besuch.
Vielleicht weil sie schon wusste, welches Elend die bröckelnde Fassade verbarg.
Sie klingelten. Nichts rührte sich. Alsberger ging zu dem grünen
Tor, in den Hof hinein und kam kurz darauf wieder zurück.
»Die Tür hinten am Haus ist zu.«
Sie klingelten noch einmal, endlich war ein Geräusch zu hören.
Rinkner öffnete. Er runzelte die Stirn, als er sie sah. »Was wollen
Sie?«
Der Dunst von Alkohol schlug Maria entgegen. Am liebsten wäre sie
einen Schritt zurückgewichen.
»Wir haben noch einige Fragen, Herr Rinkner.«
»Muss das sein?«
»Ja, das muss sein.«
Rinkner starrte sie missmutig an. Dann drehte er sich wortlos um und
ließ sie in der Tür stehen. Sie folgten ihm, in den dunklen Flur, in die Küche,
in der sie auch beim letzten Mal gewesen waren.
Es hatte sich nichts geändert. Eine Spüle voller schmutzigen
Geschirrs, am Boden leere Flaschen, der übel riechende Mülleimer.
Die Küche in der Wohngemeinschaft war chaotisch gewesen,
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