Kurs Minosmond
Sheila, „das ist schon jetzt zu einem Bestandteil unseres Heimatgefühls geworden. Selbst wenn sich auch mal negative Folgen dieser Erscheinung einstellen sollten, werden wir zweifellos damit fertig werden.“
Das zweite Gespräch, an das sich Ruben später immer wieder erinnerte, führten sie kurz vor Erreichen der dritten Siedlung. Ruben äußerte die Vermutung, daß es gut wäre, einen Katalog der ungelösten naturwissenschaftlichen Probleme aufzustellen, vor die die Venusier in Zukunft gestellt sein könnten.
„Die größeren Probleme“, sagte Sheila darauf, „sind ganz zweifellos gesellschaftswissenschaftlicher Art. Jetzt sind wir so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Wenn wir erst zehn- oder hunderttausend sind, ist das nicht mehr möglich. Aus der Geschichte der Menschheit folgt, daß eine klassenlose Gesellschaft nur langzeitig stabil sein kann auf der Grundlage des materiellen Überflusses. Den aber erreichen wir in den Luftsiedlungen nicht, sondern erst, wenn der ganze Planet bewohnbar ist. Wie halten wir uns in der Zwischenzeit stabil? Wie verhindern wir, daß aus Verfügung über Sachen wieder Macht über Personen entsteht, und sei es auch in verschleierter Form? Müssen wir vielleicht irgendeine Art historischen Rückfall von vornherein in Kauf nehmen? Ich könnte nicht sagen, daß dieser Gedanke mir gefällt, aber leichtfertig verneinen darf man ihn auch nicht, sonst steht man eines Tages da und staunt darüber, was man angerichtet hat. Da ist die Siedlung.“
„Nun bin ich aber doch gespannt auf die Überraschung!“
„Wir kommen genau rechtzeitig dazu, keine Minute zu früh und keine zu spät.“
Ruben stutzte. „Woher wissen Sie das?“
Sheila lächelte seltsam. „Ich weiß es eben“, sagte sie.
Sie landeten, wurden willkommen geheißen, Ruben hörte noch einmal, daß es gleich soweit sei, sie gingen auf dem Ruben schon bekannten Korridor, irgendwoher klang Stöhnen, sie traten in einen Raum, in dem viele Bewohner der Siedlung standen und saßen, wieder stöhnte jemand, dann war es wieder still, kurz darauf ein Schrei – und dann ein dünnes, klägliches Weinen. Nun wußte Ruben, worin die Überraschung bestand, und im selben Augenblick, da ihm das klargeworden war, wurde ein Vorhang beiseite geschoben, jemand zeigte ein Baby, frisch gewindelt, hielt es für alle sichtbar hoch und sagte mit Rührung in der Stimme: „Aphrodite – das erste Kind auf der Venus!“
4
Es gab ein Wiedersehen, das sich Wenzel nicht hatte träumen lassen, und das war so gekommen:
Der neue Anfang, den Fall Otto Mohr selbst betreffend, war die experimentelle Untersuchung des Raumteilers gewesen, und das hatte Wenzel mit Freuden Sibylle Mohr überlassen, die diese Seite gewiß gründlicher und ideenreicher angehen konnte als er oder Pauline.
Was aber die Verallgemeinerung betraf, so war nun, nach der Ablehnung der personellen Computerumfrage, nur ein Weg geblieben: die Ausforschung von Einzelfällen. Denn selbstverständlich kann jeder jeden alles fragen, solange der Gefragte nach Belieben die Antwort geben oder verweigern kann. Also mußte Wenzel sich doch, was er eigentlich hatte vermeiden wollen, an Dr. Hasgruber wenden, daß der ihm weiterhalf. Es dauerte aber einige Tage, bis es dazu kam, und die nutzten Wenzel und Pauline zu einem gründlicheren Studium der Unterlagen, die Wenzel eingesehen hatte, vor allem der Statistiken und Artikel, und sie überlegten sich genau, was bei der Ausforschung von Einzelfällen besonders interessant wäre. Nach einigem Hin und Her waren sie auf die ziemlich allgemeine Formulierung gekommen: alles, was nicht in die Statistik paßt; davon wieder besonders all das, was den Einzelheiten im Fall Mohr entweder sehr ähnlich oder ausgesprochen entgegengesetzt ist.
Bei Dr. Hasgruber, den Wenzel und Pauline gemeinsam aufsuchten, stellte sich heraus, daß er einen solchen Patienten gehabt hatte, und er war nicht nur bereit, Verbindung zu den Hinterbliebenen herzustellen, sondern empfahl das geradezu. Die Frau des Verstorbenen hatte bis heute noch nicht aufgehört, nach Gründen und Ursachen des plötzlichen Todes zu suchen und, da sie keine fand, sich einer gefährlichen Tendenz der Selbstbeschuldigung hinzugeben. Er halte allerdings, sagte er ungehemmt, Pauline für geeigneter, Kontakt mit der Frau aufzunehmen.
Wenzel empfahl er etwas anderes, und da bahnte sich die Überraschung schon an – er kannte einen der drei Verfasser, deren Artikel Wenzel in der
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