Kurs Sol-System
Mikrokunsthirn.
Vier Minuten also. Das war knapp bemessen. Doch es gelang ihm, in diesen vier Minuten aus dem Sparklancer zu klettern und sich zum Gepäck in die Innenschleuse zu flüchten.
Die Magnetklammern an der Hangardecke lösten sich vom Rumpf der RHEINGOLD 07. Der Sparklancer stürzte aus dem Landungsschiff …
*
An Bord der WYOMING, 15. Februar 2554 nGG
3.56 Uhr Terra-Prima-Zeit. Schlecht eingeschlafen. Nach zwei Stunden oder so wieder aufgewacht, danach gar nicht mehr eingeschlafen.
Magendrücken; volle Blase; übler Traum. Sehr übel.
Vor die Tür meiner Suite gegangen, um mir ein wenig die Beine zu vertreten. Meine Eidmänner spielen Schach dort im Foyer. Trevor Gorges, mein Chefingenieur, und meine Leibwächter Alban und Urban. 3D-Schach zu dritt. Wieso sind sie nicht müde? Gorges verliert schon wieder. Urban wird ihn in zwei Zügen mattsetzen, selbst aber von Alban in die Falle gelockt, wenn er nicht aufpaßt. Man kann es nicht mitansehen!
Jetzt ist es schon nach vier. Zurück in meinem Schlafzimmer. Übler Traum. Ich werde ihn aufschreiben und danach hoffentlich wieder schlafen können.
Hier ist der Traum:
Wir erreichen das Sol-System. Zweihundertzwanzig Schiffe und die WYOMING. Über Funk halte ich eine Abschiedsansprache an alle Gratulanten und an Oberst Kühn und seine kleine Begleitflotte. Bedanke mich für die Glückwünsche, für die Geschenke, für die Eskorte, für die angenehme Gesellschaft und so weiter.
Dann eine Nachricht von Terra Prima. Alle seien zu einer Orgie irgendwo auf dem Kontinent Europa geladen, nur ich müsse mich noch ein wenig gedulden, und mit mir die Besatzung der WYOMING. Meine 220 Begleitschiffe verlassen mich, fliegen ins Sol-System, landen auf dem Mutterplaneten, der guten alten Erde, wie man in der Neoantike zu sagen pflegte. Aber genau so nannte ich Terra Prima im Traum – »gute alte Erde«.
Nach tausend Jahren oder so kommt ein Funkspruch vom verbotenen Planeten. Die Orgie sei nun vorbei und ich samt Familie, Sippe und Eidmännern an der Reihe, auf Terra Prima zu landen. Nur leider verwüste soeben ein feindliches Schiff den Planeten, und ich müsse mich noch ein paar tausend Jahre gedulden, bis man den Feind besiegt habe.
Ich: Wie heißt das feindliche Schiff?
Terra Prima: JOHANN SEBASTIAN BACH.
Ich: Wie heißt sein Kommandant?
Terra Prima: Commodore Merican Bergen.
Und dann bin ich aufgewacht.
Der Traum ist nicht besonders originell. Kein Problem, ihn zu deuten. Zunächst die sogenannten Tagesreste: Gegen Abend weihte mich Pipin Tartagnant in ein »Geheimnis« ein, wie er sich ausdrückte. Bergen, so erzählte er, sei der Kommandant des 12. Pionierkampfverbandes der Flotte gewesen. Man hätte ihm befohlen, den Sträflingsplaneten Genna zu beschießen. Bergen aber habe sich geweigert, weil der Angriff zwei Millionen Sträflinge das Leben gekostet hätte, mehr als die Hälfte Frauen, Kinder und Greise. Seitdem seien er und seine Getreuen vogelfrei.
Pipin Tartagnant, der mir übrigens sehr sympathisch ist, nennt sich selbst »Commodore«.
Dann die zweihundertzwanzig Begleitschiffe – ständig lebe ich in der Angst, bis auf 220 Kilogramm zuzulegen. Daß die 220 Begleitschiffe mich verließen, war also Ausdruck des unbewußten Wunsches, 220 Kilo nie zu erreichen, sie gewissermaßen vorbeugend schon loszuwerden.
Und schließlich »des Pudels Kern«, wie mein Ururgroßvater zu sagen pflegte: Nicht ich, der Höchstgeehrte und die Hauptperson dieser Reise quer durch die Galaktische Republik Terra, werde ins Sol-System gelassen und darf zwecks tausendjähriger Orgie auf Terra Prima landen, sondern meine an sich nebensächlichen Begleitschiffe. Das ist der neurotische Ausdruck meines chronischen Mangels an Selbstwertgefühl: Da wiegt man 211 Kilogramm, ist 212 Zentimeter groß, promoviert und ein republikweit gefragter Spezialist in Sachen Quantenkybernetik und Kunsthirninformatik, erhält sogar die Höchste Ehrung des P.O.L. und fühlt sich dennoch klein und unbedeutend wie das Schwarze unter dem Nagel des kleinen Fingers meines primitiven Dwingolangowarknaben Rüsselheimer, der mit Mühe und Not einen vollständigen Satz, schreiben und drei oder höchstens vier lesen kann …
Und wahrhaftig – ich habe zwar einen neuartigen Quantenkernprozessor für Kunsthirne entwickelt, und dieser Prozessor verhindert zuverlässig, daß Rechner, angefangen vom einfachen Arbeitsroboter bis hinauf zum Bordhirn eines Schlachtschiffes, sich zu
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