Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Besitz ist ziemlich übersichtlich. Sie musste ja alles verkaufen, als sie die Firma unseres Vaters an die Wand gefahren hatte.«
Die Wohnung lag in der ersten Etage. Sie war lange nicht bewohnt worden, das erkannte Erik sofort, als sich die Tür öffnete. Der Geruch von abgestandener Luft schlug ihnen entgegen, aber eine angenehme Beimischung machte ihn erträglich. Ein Parfüm vielleicht, oder ein Reinigungsmittel. Nach gründlichem Lüften würde es hier wieder angenehm riechen.
Erik wanderte durch die kleine Wohnung, die aus einem Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einer winzigen Küche und einem noch winzigeren fensterlosen Bad bestand. Sören öffnete das Küchenfenster, während Erik ins Wohnzimmer ging und von dort den Balkon betrat. Die benachbarten Balkone waren sehr nah, für eine Frau, die in einem großen Einfamilienhaus aufgewachsen war, vermutlich viel zu nah. Was es bedeutete, dass Matilda Pütz mit der Firma ihres Vaters auch ihr komfortables Leben verloren hatte, wurde ihm erst jetzt klar. Die Zwillinge waren in sehr privilegierten Verhältnissen aufgewachsen. Corinna Matteuer hatte immer noch alles, woran die beiden von klein auf gewöhnt gewesen waren, sogar noch mehr. Wie mochte Matilda mit diesem Abstieg zurechtgekommen sein? Dass ihre Schwester zu ihr hielt und ihr ermöglichte, an ihrem Wohlstand teilzuhaben, mochte ein Trost gewesen sein, aber vielleicht auch das genaue Gegenteil. Ständig vor Augen geführt zu bekommen, dass Corinna etwas gelungen war, was sie selbst auch hätte haben können, machte das Scheitern vielleicht unerträglich.
Sören schwieg, als ahnte er Eriks Gedanken und wollte sie nicht stören. Er ging ins Schlafzimmer und begann dort mit der Suche nach etwas, von dem sie keine Vorstellung hatten. Lustlos öffnete er Schubladen und Schranktüren, während Erik in der Küche und im Wohnzimmer das Gleiche tat. Corinna hatte recht. Matilda musste nach dem Konkurs alles verkauft haben, was zu Geld zu machen war. Der Inhalt ihrer Schränke war armselig, es fand sich nur, was zum Leben nötig war, mehr nicht. Selbst Erinnerungsstücke schien sie vernichtet zu haben. Nur ein einziges Fotoalbum fand Erik, ansonsten nichts, was etwas über Matildas früheres Leben erzählte. Vielleicht wollte sie nicht ständig mit dem konfrontiert werden, was sie verloren hatte? Erik empfand tiefes Mitleid. Und plötzlich glaubte er auch verstehen zu können, warum jemand wie sie, wenn er zurückgewiesen wurde, zu einer so schrecklichen Tat fähig war.
Ein Anruf von Enno Mierendorf riss Erik aus seinen Gedanken. Mierendorf meldete, dass er sich mit Rudi Engdahl noch einmal durch die gesamte Nachbarschaft des Baubüros gefragt hatte. Niemand hatte einen Flüchtigen gesehen. Durch die angrenzenden Gärten war Dennis’ Mörder also anscheinend nicht geflohen.
»Kommen Sie mal, Chef!«, rief Sören aus dem Schlafzimmer. Er hielt ihm einen Brief hin.
»Den habe ich zwischen der Rückwand der Schublade und der Rückwand des Schrankes gefunden. Hatte sich anscheinend irgendwie verklemmt.«
Sören hatte sich mittlerweile zum Spezialisten für Geheimfächer entwickelt. Ein Griff, und er fand Zwischenwände und doppelte Böden, die vorher niemand entdeckt hatte.
»Ob er dort versteckt worden ist?« Erik öffnete den Umschlag, faltete das Blatt auseinander und las vor: »Meine Geliebte! Jeder Tag mit dir ist ein Geschenk, ein Tag ohne dich vergeudete Zeit. Mein Herz gehört nur dir. Du bist die Liebe meines Lebens, diese eine große Liebe, die mit keiner anderen zu vergleichen ist.«
Erik drehte den Brief um, die Rückseite war leer. »Keine Unterschrift. Ob der von Ludo Thöneßen ist?«
Sören stellte sich neben ihn und blickte über seine Schulter. »Ich glaube nicht. Als wir Ludos Büro durchsucht haben, ist mir viel Handschriftliches in die Hände gefallen. Ludo hatte eine große, krakelige Schrift.«
Erik starrte weiter auf das Briefblatt. »Wenn es nicht Ludo war … das hieße ja, dass Matilda noch einen Geliebten hatte!«
Sören verzog spöttisch das Gesicht. »Der Brief kann zehn Jahre alt sein. Ich glaube im Übrigen nicht, dass er versteckt wurde. Der hatte sich hinten in der Lade verklemmt. Versehentlich!«
Erik faltete den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. »Wir vergleichen die Schrift vorsichtshalber mit Ludos. Wenn er den Brief nicht geschrieben hat, kann uns vielleicht Corinna weiterhelfen.«
Sören zuckte die
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