Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Gehör. Niemand wollte, dass der Erfolg, der sich am Horizont zeigte, kleingeredet wurde. Das Scheitern von Matteuer-Immobilien war noch nie so nah gewesen. Mamma Carlotta hätte in ihrer Euphorie beinahe vergessen, dass der Name von Ludos Mörderin nicht genannt werden durfte. Wie gerne hätte sie den Optimismus der Mitglieder von »Verraten und verkauft« noch weiter unterstützt, indem sie ihnen verriet, dass auch Ludos Tod in den Dunstkreis der Investorin reichte.
Als wären die Gedanken auf ihrer Stirn lesbar gewesen, rief plötzlich jemand: »Wann kriegt die Polizei endlich raus, wer Ludo auf dem Gewissen hat? Schläft die Kripo eigentlich? Oder tun die auch was für ihr Geld? Man hört ja rein gar nichts von irgendwelchen Ermittlungserfolgen!«
Stille schnitt in die Hochstimmung, vielsagende Blicke trafen Mamma Carlotta, und Peinlichkeit erfasste diejenigen, die sich so freimütig geäußert hatten, ohne zu bedenken, dass die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars unter ihnen war. Zwar bekam einer von ihnen schnell die Kurve, indem er mit hochrotem Gesicht nachsetzte: »Wahrscheinlich wollen die noch nichts verraten, um die Ermittlungen nicht zu gefährden!«, aber die gute Stimmung hatte einen Knacks bekommen. Mamma Carlotta machte keinen Hehl aus ihrer Kränkung, und so retteten sich die Mitglieder von »Verraten und verkauft« in ihre Unterschriftenlisten, die sie miteinander verglichen, um herauszufinden, wer von ihnen am erfolgreichsten gewesen war. Als Carolin und Felix die Sportlerklause betraten, hätte man die Verlegenheit greifen können, so dicht stand sie im Raum.
Aber die beiden merkten zum Glück nichts davon und gesellten sich arglos zu ihrer Nonna, der es gelang, augenblicklich die fröhliche Miene aufzusetzen, an die ihre Enkel gewöhnt waren. »Sämtliche Ärzte und Schwestern des Ferienheims für Mutter-Kind-Kuren haben unterschrieben«, verkündete Carolin, die, seit sie beschlossen hatte, in die Politik zu gehen, eine viel lautere und festere Stimme bekommen hatte und neuerdings die Silben betonte, als käme es auf jede einzelne an. »Die Putzfrauen, das Küchenpersonal und der Hausmeister auch.«
Felix bewies, dass er nach wie vor kein Interesse an der Diplomatie hatte, die für einen Politiker unerlässlich war: »Ein paar der Mütter auch, die Bekannte auf Sylt haben. Die haben dann einfach deren Adressen eingesetzt.«
Carolin wurde rot und so verlegen, wie man es sich von manchem Politiker kurz vor seinem Rücktritt gewünscht hätte. »Vor allem wissen jetzt alle, worum es geht«, wich sie aus. »Sogar die Kinder haben verstanden, dass es in Westerland mehr als 25 000 Gästebetten gibt und dass viele der alten Pensionshäuser abgerissen wurden und stattdessen Neubauten entstanden sind. Konzeptionslos und unkoordiniert!«
Mamma Carlotta staunte ihre Enkelin an. Wer solche schwierigen Fremdwörter zu benutzen wusste, musste ein kluger Mensch sein! Zu dieser Ansicht war Carlotta Capella gekommen, seit sie einmal der Predigt des Pfarrers in Città di Castello gelauscht hatte, der zwar in ihrer Muttersprache geredet, aber so viele Fremdwörter hatte einfließen lassen, dass es ihr unmöglich gewesen war, den Sinn seiner Predigt zu verstehen. Doch da er als besonders klug und gebildet galt, stand seitdem für sie fest: Je unverständlicher einer redete, desto klüger war er!
»Der Erholungswert unserer Insel ist unser wichtigstes Kapital«, fuhr Carolin fort. »Das habe ich den Kindern erklärt, und sie haben verstanden, dass wir unsere Landschaft durch das hemmungslose Profitstreben der Investoren zerstören.«
Carolin bewies, dass sie bereits gelernt hatte, wie hilfreich die Ablenkung auf ein anderes Thema sein kann. Als sähe sie das Foto zum ersten Mal, wies sie auf eine der Ausgaben des Inselblattes, von dem ihre Großmutter herunterstrahlte. »Ist das nicht großartig? Diese Berichterstattung zeigt, dass die Insulaner sogar Unterstützung aus Italien haben! Aus ganz Europa! Aus aller Welt!« Dass Übertreibung ein gutes Mittel zur Verdeutlichung der eigenen Thesen ist, hatte sie also auch schon gelernt.
Sie erhielt begeisterte Zustimmung. Willi Steensen, der Vorsitzende, erhob sich, um eine kurze Rede an seine Mitstreiter zu halten. Weitere Aktionen wolle er ankündigen und mit allen gemeinsam darüber beraten, wie es weitergehen solle. »Es wird Zeit, dass wir uns die Gemeinderäte vornehmen. Bisher haben sie sich jeder Diskussion entzogen, Vorwürfe abgeblockt und
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