Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Fragen nur ausweichend beantwortet. Diese Leute haben wir gewählt! Wir haben also auch ein Recht darauf zu erfahren, wie sie denken und was sie planen. Wir können sogar verlangen, dass sie so denken und planen, wie es für uns, die Bevölkerung von Sylt, am besten ist! Ich schlage vor, ein offizielles Schreiben an den Gemeinderat vorzubereiten, nachdem es bei der Demo wieder mal zu keiner Gegenüberstellung gekommen ist.«
Willi Steensen wurde mit kräftigem Applaus belohnt. Er wollte seine Rede noch fortführen, aber dazu kam er nicht mehr. In dem Augenblick, in dem der Jubel sich senkte und die Stimmen verstummten, drang ein Laut in die Sportlerklause, der alle erstarren ließ. Von hinten, nach einem weiten Weg über den Flur, kam ein Schrei. In der Sauna musste er entstanden sein, nun jagte er auf die Tür der Sportlerklause zu. »Polizei! Hilfe! Polizei!«
Die Tür wurde aufgerissen, und Jacqueline stand auf der Schwelle. Zitternd und kraftlos lehnte sie sich in den Türrahmen. »Hilfe, Polizei!«, flüsterte sie nun, dann sank sie Willi Steensen an die Brust, der im letzten Moment noch einen Schritt auf sie zu gemacht hatte.
F rau Schermann hatte darauf bestanden, dass Erik und Sören ihr ins Erdgeschoss folgten, wenn sie mit ihr reden wollten. »Nicht in der Wohnung einer Toten!«
Sören warf Erik einen genervten Blick zu, der seinem Chef sagen sollte, dass es reine Zeitverschwendung war, mit einer alten Frau über Matilda Pütz zu reden, selbst wenn sie früher die Grundschullehrerin der Zwillinge gewesen war. Als Erik verärgert den Kopf schüttelte, warf Sören ihm einen Blick zu, der unmissverständlich klarmachte, dass er das Interesse seines Chefs für rein privat hielt und sich nicht verpflichtet fühle, den Geschichten über die Kinderjahre der Zwillingsschwestern zuzuhören.
Als sie die Treppe hinabstiegen, raunte er Erik zu: »Täten Sie das auch, wenn Sie keine schönen Erinnerungen an die junge Corinna Matteuer hätten?«
Erik antwortete nicht darauf, sondern machte nur mit einer Geste deutlich, dass Sören gerne auch vor der Tür oder im Auto auf ihn warten durfte. Aber da Sören diese Alternative für noch ungemütlicher hielt, als es in den Räumen einer pensionierten Lehrerin sein konnte, schüttelte er nur resigniert den Kopf und betrat nach ihm Frau Schermanns düstere Wohnung. Sie war genauso klein wie Matildas, aber vollgestopft mit Mobiliar. Was Matilda aus ihrem Leben verbannt hatte, als sie in dieses Haus zog, hatte Frau Schermann auf Tischchen, in Regalen, auf Fensterbänken und an allen Wänden bewahrt. Überall standen gerahmte Fotos herum, Urlaubsandenken, Bücher, Ansichtskarten, bestickte Servietten, bemalte Kieselsteine, beklebte Blumentöpfe, Bilder von Hobbymalern und Häkeldeckchen aus dem Handarbeitsunterricht – jedes Teil in Frau Schermanns Wohnzimmer schien eine Geschichte zu erzählen. Erik sah, dass Sören froh war, der Einladung gefolgt zu sein. Denn tatsächlich war es warm und gemütlich in diesem kleinen Wohnraum. Und dass Frau Schermann Tee und Gebäck anbot, gefiel Sören genauso wie Erik.
»Ich weiß noch«, begann sie zu erzählen, »wie die beiden eingeschult wurden. Niemand konnte sie auseinanderhalten. Aber schon im zweiten Schuljahr gab es eine Veränderung, die es leichter machte, eine von der anderen zu unterscheiden.«
»Was war das?«, fragte Erik und sah zu, wie Frau Schermann ihm Tee eingoss und ein Stück Kandis in die Tasse gab. Erst als auch Sören bedient war, setzte sie die Unterhaltung fort.
»Die Mädchen waren sich gar nicht so ähnlich, wie es auf den ersten Blick schien. Äußerlich natürlich, aber im Wesen waren sie unterschiedlich. Und so was zeigt sich immer auch im Äußeren, in den Augen, im Lachen, in der Körperhaltung und natürlich auch im Kleidungsstil.«
Erik und Sören nickten, ließen sich die Plätzchen schmecken, die eine ehemalige Schülerin gebacken hatte, die ihre frühere Lehrerin nach wie vor besuchte. Frau Schermann fuhr fort: »Der alte Pütz, der Vater der beiden, hatte sich immer einen Sohn als Nachfolger gewünscht. Doch seiner Frau sollte wohl keine zweite Schwangerschaft zugemutet werden, das ließ er irgendwann mal durchblicken.« Frau Schermann zog die Stirn hoch und die Mundwinkel nach unten, um auszudrücken, was sie von Frauen hielt, die ein bequemes Leben über alles stellen. »Aber er hat sich schnell damit abgefunden. Irgendwann hat er mal zu mir gesagt, dass heutzutage ja auch Frauen eine Firma
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