Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
leiten können. Eine von den beiden würde sich schon eignen.«
»Und dann waren sogar beide bereit, die väterliche Firma weiterzuführen«, warf Erik ein.
Frau Schermann nickte. »Davon habe ich damals nur gehört. Nach der Grundschulzeit hatte ich zunächst keinen Kontakt mehr zu den Zwillingen und ihren Eltern. Bis Matilda in dieses Haus zog …«
»Dann wissen Sie ja auch, dass sie die Firma ihres Vaters ruiniert hat?«, fragte Erik.
Frau Schermann zog ein bekümmertes Gesicht. »Ich hätte es mir denken können. Wie gesagt, die Zwillinge waren unterschiedlicher, als alle glaubten. Mir kam es manchmal so vor, als durchschauten nicht einmal die eigenen Eltern, dass die beiden sich nur äußerlich glichen wie ein Ei dem anderen. Beide schienen sie ehrgeizig und erfolgreich zu sein, aber ich habe gleich gemerkt, dass es vor allem Corinna war, die Ehrgeiz und Leistungswillen besaß. Matildas Erfolg wurde immer über Corinnas abgeleitet. Die eine war erfolgreich, also musste die andere es auch sein, schließlich waren die beiden eineiige Zwillinge und in allem gleich!«
Erik glaubte zu verstehen. »Matilda wurde davon überfordert?«
Frau Schermann nickte. »Aber auch das merkte niemand. Ich glaube, ich war die Einzige, die was von Matildas Problemen mitbekam. Immer hieß es: Den Zwillingen gelingt alles. Aber das, was Corinna gelang, schaffte Matilda oft nur, weil ihre Schwester ihr half. Für Corinna war es ganz selbstverständlich, Matilda in allem beizustehen. Sie machte ihre Schwester immer zu einem Teil ihres Erfolges, sodass stets von den Leistungen der beiden Zwillinge die Rede war.«
»Das war doch schön für Matilda«, warf Sören ein, erntete aber einen tadelnden Blick von Frau Schermann.
»Auf den ersten Blick vielleicht«, sagte sie. »Aber Matilda wusste ja, dass ihr der Erfolg oft nicht zustand, dass er meistens ganz allein Corinna gehörte. Sie durfte von ihr abschreiben, Corinna verhalf ihr zu guten Noten, steckte auch bereitwillig zurück, damit Matilda gelegentlich besser sein konnte als sie. Manchmal tauschten die beiden sogar die Rollen.«
Erik runzelte die Stirn. »Sie meinen … Corinna hat sich als Matilda ausgegeben?«
»Wenn Matilda zum Beispiel ein Gedicht aufsagen sollte, was ihr nie gut gelang, weil sie so aufgeregt war, dass sie sich verhaspelte und den Text vergaß. Bei einer Schüleraufführung hat Corinna sich einmal mit einer winzigen Nebenrolle begnügt und dann auch noch Matildas Hauptrolle gespielt, weil die sich vor lauter Lampenfieber auf keine Bühne traute. Aber als der Applaus kam, durfte Matilda sich verbeugen und die Anerkennung einheimsen.«
»Das haben Sie gemerkt?«, fragte Erik ungläubig.
Frau Schermann wirkte mit einem Mal schuldbewusst. »Ja, und ich habe es toleriert. Später habe ich mich gefragt, ob das richtig war. Vielleicht hätte Matilda ihr Leben besser gemeistert, wenn sie ihre Grenzen und die Überlegenheit ihrer Schwester anerkannt hätte. Lob und Anerkennung zu erhalten, ohne es verdient zu haben, ist nicht halb so befriedigend, wie Otto Normalverbraucher sich das vorstellt.« Sie warf Sören einen strengen Blick zu, der für sie anscheinend in die Kategorie Otto Normalverbraucher fiel.
Erik fand diesen Aspekt interessant und hätte ihn gerne vertieft, aber in dem Augenblick klingelte sein Handy. Er sah Frau Schermann bedauernd an. »Tut mir leid, ich bin im Dienst. Ich muss rangehen.«
Frau Schermann machte nicht den Anschein, als hätte sie Verständnis für Mobiltelefone und ständige Erreichbarkeit, schien aber längst die Erfahrung gemacht zu haben, dass dagegen kein Kraut gewachsen war. Also nickte sie gnädig und machte Anstalten, ihr Gespräch in Sörens Richtung fortzusetzen.
Doch dazu kam es nicht mehr. Eriks Miene veränderte sich derart, dass nicht nur Sören, sondern auch Frau Schermann aufmerkte. Erik antwortete einsilbig, aber mit aufgeregter Stimme und sagte schließlich: »Wir kommen sofort zurück! Rufen Sie bitte im Kommissariat an. Mierendorf und Engdahl sollen alles Nötige veranlassen und so lange am Tatort bleiben, bis wir zurück sind.«
Erik erhob sich und reichte Frau Schermann die Hand. »Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch«, sagte er freundlich. »Aber leider müssen wir jetzt zurück. Die Pflicht ruft.«
Sören gelang es, seine Neugier so lange im Zaum zu halten, bis auch er sich angemessen von Frau Schermann verabschiedet hatte. Aber die Tür ihrer Wohnung war noch nicht ins Schloss gefallen, da
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