Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
»Ich weiß nur, dass auch Wiebke Reimers lügt. Sie ist dabei geblieben, dass das Fenster bereits eingeschlagen war, als sie hinter dem Baubüro auftauchte.«
M amma Carlotta war nervös. Am Abend zuvor hatte sie einen Verwandten nach dem anderen angerufen, das Gespräch unauffällig auf Niccolò gebracht und so ganz nebenbei nach seiner Handynummer gefragt, aber jedes Mal vergeblich. Zu Niccolòs Eheproblemen hatte jeder etwas zu sagen gehabt, zu seiner finanziellen Misere auch, aber wie man ihn erreichen konnte, wenn er nicht in der Nähe seines Festnetztelefons war, das wusste niemand. Eine Cousine Carlottas hatte den Verdacht geäußert, Niccolò ginge es mittlerweile so schlecht, dass er seine Handyrechnung nicht mehr bezahlen konnte und er darum nun gar kein Telefonino mehr besaß. Eine Nichte wollte ihn sogar auf irgendeiner Piazza gesehen haben, wo er sich auf Händen um einen Hut herum bewegt hatte, in den die Zuschauer ein paar Geldstücke werfen sollten.
Mamma Carlotta war tief erschüttert. Ein Italiener, der sich kein Telefonino mehr leisten konnte, war am Ende angekommen. Jeder italienische Macho verzichtete eher darauf, die Alimente für seine Kinder zu zahlen, als auf die Gewissheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar zu sein. Niccolò musste es noch schlechter gehen, als sie befürchtet hatte! Und sie, seine Tante, konnte ihm ein Bistro besorgen, mit dem er wieder auf die Beine kam! Musste sie es da nicht in Kauf nehmen, auf Sylt demnächst schief angesehen zu werden? »Ecco, das vielleicht schon!« Aber was war mit ihren Enkelkindern? Standen die nicht in der Rangliste der Verwandten über einem Neffen, der eigentlich selber schuld war, wenn er eine Frau heiratete, vor der er mehrfach gewarnt worden war? Konnte sie es Carolin und Felix wirklich zumuten, sich ihrer Nonna schämen zu müssen? »No! Impossibile!«
Mamma Carlotta blickte aus dem Fenster und redete sich ein, dass der Weltuntergang nicht fern war. Dieser Sturm! Dieses Fauchen und Wüten! Sie konnte sich gut vorstellen, dass es mit der Menschheit an diesem Tag vorbei sein würde. Und wenn das so war, dann machte es keinen Sinn, in Käptens Kajüte das Mittagsgeschäft für Gäste vorzubereiten, die sowieso nicht erscheinen würden.
Doch natürlich wurde ihr schnell klar, dass sie sich damit vor der Arbeit in Toves Imbissstube drücken wollte. Aber war das nicht verständlich? Tove hatte einen Meineid geschworen! Er hatte ihr eiskalt ins Gesicht gelogen! Und sie hatte ihm geglaubt. Nein, ein Mann, der beim Gedenken an seine Mutter log, hatte ihre Hilfe nicht verdient. Erst recht nicht, wenn der Verdacht bestand, dass dieser Mann ein Mörder war. Sie schüttelte sich, als sie sich ausmalte, wie Tove in die Sauna eingedrungen war, wo Sila Simoni sich arglos auf einer Holzbank ausgestreckt hatte. Und dann merkte sie, dass es ihr nicht gelang, sich so etwas vorzustellen. Und dass sie es auch nicht wollte! Solange Tove nicht überführt und geständig war, wollte sie ihn weiterhin heimlich ihren Freund nennen. Und Fietje Tiensch ebenfalls, den sie unmöglich in Käptens Kajüte mit den Bratwürsten und den Pommes frites allein lassen konnte. Obwohl sie auch mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen hatte …
Während sie sich Eriks winddichte Jacke anzog, fiel ihr auf, dass es noch eine andere Möglichkeit gab: Der wahre Mörder hatte versucht, den Verdacht auf Tove zu lenken. Dessen Turnschuhe waren für jeden zugänglich gewesen, und da er zurzeit die hässliche Angewohnheit hatte, seine Zahnstocher nach dem Gebrauch einfach dort auszuspucken, wo er sich gerade befand, hatte jeder, der ihn kannte, die Möglichkeit, sich heimlich eines solchen Zahnstochers zu bemächtigen.
Prompt fühlte Mamma Carlotta sich wieder besser. Ja, so konnte es gewesen sein! Sie musste unbedingt mit Fietje darüber sprechen. Und er schuldete ihr noch die Erklärung dafür, wie er Corinna Matteuer an dem Abend in Ludos Apartment sehen konnte, wenn sie doch zur gleichen Zeit ganz woanders gewesen war. Er musste sich geirrt haben und hatte Tove damit nun in Schwierigkeiten gebracht.
Als Mamma Carlotta aus dem Haus trat, erschrak sie. Der Sturm war noch heftiger, als sie geglaubt hatte, sein Brüllen noch gewaltiger. Und das Meer schien näher gerückt zu sein. Jedenfalls hatte sie die Brandung im Süder Wung noch nie so deutlich hören können.
Ans Fahrradfahren war nicht zu denken. Bis zur Einbiegung in die Westerlandstraße musste sie sich dem Wind mit aller
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