Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
dann schien sie ihn zu erkennen. »Erik? Was für ein Zufall! Du lebst immer noch auf Sylt?« Sie machte einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür weiter. »Komm rein.« Sie ging ihm voran ins Wohnzimmer und drehte sich dort um. »Ist was passiert?«
Erik war unfähig zu antworten. Er war vollauf damit beschäftigt, sie zu betrachten. Ihre großen hellgrauen Augen, das Grübchen am Kinn, das ihn früher entzückt hatte, ihre schlanke Figur, die noch genauso biegsam zu sein schien wie früher, ihr undurchschaubares Lächeln, das ihn immer in Ungewissheit gehalten hatte. Jedes Mal, wenn er geglaubt hatte, ihr Herz erreicht zu haben, war dieses spöttische Lächeln in ihren Mundwinkeln erschienen und hatte ihn zurückgewiesen. Und jetzt? Wie sollte er ihr erklären, dass ihre Schwester tot war? Die Zwillinge waren immer ein Herz und eine Seele gewesen.
Ehe er etwas sagen konnte, wurde Corinna auf die offene Balkontür aufmerksam. Sie runzelte die Stirn und schloss die Tür. »Wieso lässt Matilda die Tür offen?«, fragte sie leise. »Dazu ist es viel zu kalt.« Dann stockte sie, starrte Erik aus großen Augen an, als käme ihr soeben ein ungeheurer Verdacht, und lief auf den Balkon. Sie beugte sich weit über das Gitter. Erik wusste, was sie nun sah: Eine Leiche wurde abtransportiert.
Er fand nicht so schnell die richtigen Worte. Ehe er etwas sagen konnte, durchquerte sie das Wohnzimmer und lief in einen Flur, von dem drei weitere Türen abgingen. Eine dieser Türen riss sie auf. Erik hörte ihre Stimme: »Matilda?«
Er folgte ihr, betrat das Zimmer, das offenbar ihrer Schwester gehörte, und blieb neben ihr vor dem ordentlich gemachten Bett stehen. Sanft legte er einen Arm um ihre zitternden Schultern. »Du musst jetzt sehr stark sein.«
Sie fuhr zu ihm herum, wütend, aggressiv, außer sich. »Was ist mit Matilda?« Sie sah aus, als wollte sie Erik schlagen, als wollte sie die Wahrheit aus ihm herausprügeln oder ihn zwingen, sie zu verschweigen. Dann begann sie zu schluchzen. »Was ist mit ihr?«
Erik führte sie ins Wohnzimmer zurück und drückte sie in einen Sessel. Ohne ein Wort ging er in die Küche und holte eine Flasche Mineralwasser, die dort auf der Fensterbank stand. Ein Blick, und er hatte erkannt, wo die Gläser aufbewahrt wurden.
Bevor er ins Wohnzimmer zurückging, atmete er tief durch und sah sich um. Er war nicht oft in diesem Apartment gewesen, trotzdem erkannte er, dass sich nichts verändert hatte. Die Einrichtung, die die Eltern angeschafft hatten, war noch die gleiche. Solide, aber altmodische Küchenmöbel, durch raffinierte technische Geräte ergänzt, schwere Eichenmöbel im Wohnzimmer, Spitzengardinen vor den Fenstern, lederne Sessel und Sofas, samtene Kissen und bestickte Tischdecken. Die Wände waren zwar hell tapeziert worden und die hässlichen dunklen Holzvertäfelungen an den Zimmerdecken verschwunden, aber die Bilder, die Erik schon damals nicht gefallen hatten, hingen immer noch an den Wänden. Düstere Landschaften in dunklen Rahmen.
Er ging zurück, schenkte Corinna ein und hielt ihr das Glas hin. »Trink erst mal.«
Sie gehorchte wie eine Marionette und führte das Glas zum Mund.
»Es sieht so aus, als hätte deine Schwester Selbstmord begangen«, sagte er dann leise. »Sie hat sich vom Balkon gestürzt.« Er stockte, beobachtete sie, dann fragte er: »Kennst du den Grund dafür?«
Sie stellte das Glas ab und schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr Blick auf den Briefumschlag, der auf dem Tisch lag. »Was ist das?«
Erik sah sie aufmerksam an. »Ein Abschiedsbrief? Lag dieser Umschlag vorher nicht auf dem Tisch?«
Sie schüttelte den Kopf. Als er ihr den Brief reichen wollte, schüttelte sie ihn noch heftiger. »Lies ihn mir vor.«
Erik öffnete den Umschlag und zog den handschriftlichen Brief heraus, der nur aus wenigen Zeilen bestand. Mit dem Brief fiel eine weiße Plastikkarte aus dem Umschlag, der Erik zunächst keine Aufmerksamkeit schenkte.
Leise begann er zu lesen. »Liebe Corinna, ich halte es nicht mehr aus. Du hast natürlich längst gemerkt, dass ich mich verliebt habe, und hast dich gefragt, warum ich dir den Namen des Mannes nicht verrate. Der Grund ist: Ich habe immer geahnt, dass er mich betrügt, dass er mich nicht wirklich liebt, sondern mich nur ausnutzt. Nun wurde mir der Beweis geliefert. Ludo ist ein Mistkerl!«
Erik ließ den Brief sinken. »Ludo Thöneßen?«
Aber Corinna schien ihn gar nicht wahrzunehmen. »Matilda ist doch keine Frau, die
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