Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
und Tove kam ein weiteres Mal in den Genuss, das Wechselgeld behalten zu dürfen. »Das sagen Sie erst jetzt?« Sie wickelte den Schal, den sie gerade gelöst hatte, wieder fest um den Hals und war schon an der Tür, ehe Mamma Carlotta etwas erwidern konnte. »Ich verrate nicht, woher ich die Info habe! Versprochen!«
Ein Windstoß fuhr in Käptens Kajüte, als Wiebke die Tür aufriss und ein Schmerzensschrei ertönte. Fietje Tiensch kam hereingehumpelt und hielt sich das Knie. »Läuft glatt andere Leute über den Haufen, so eilig hat sie’s«, brummte er und steuerte seinen Stammplatz am kurzen Ende der Theke an.
Das Inselblatt war auf der Theke liegen geblieben. Mamma Carlotta nahm es unauffällig an sich, faltete es zusammen und steckte es in ihre Jackentasche. Zu Hause würde sie es sofort in ihrem Koffer verschwinden lassen. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie das Inselblatt auf der Piazza von Panidomino von einer Hand zur anderen gehen würde.
A uf dem Bahnsteig war nicht viel los. Die Züge mit den Pendlern, die auf Sylt arbeiteten, aber auf dem Festland wohnten, waren längst angekommen. Ein paar Urlauber, deren Syltaufenthalt zu Ende gegangen war, bummelten von einem Gleis zum anderen, und einige, die im Bahnhofsbistro frühstücken wollten, nahmen den Hintereingang, statt die heruntergekommene Bahnhofshalle zu durchqueren. Erst gegen Mittag würde es voll werden, wenn die Züge kamen, die Herbsturlauber auf die Insel brachten. Der Zug, in dem Sila Simoni nach Westerland kam, würde nicht viele Passagiere haben.
Erik dachte an den Sommer, in dem er Corinna zum letzten Mal zum Zug gebracht hatte. Danach war Schluss gewesen mit den Syltferien. Sie hatte es ihm angekündigt, Urlaub mit den Eltern sei langweilig, sie wolle mit der Clique in die Schweiz fahren. Er hatte darauf gehofft, dass sie ihn einlud mitzufahren, aber vergeblich. Nur in Matildas Augen hatte das Verlangen nach einem Wiedersehen gestanden, aber das hatte er nicht sehen wollen. Beide Mädchen hatte er umarmt, sie dufteten gleich, eine hatte sich angefühlt wie die andere, und doch schlug sein Herz immer nur für Corinna. Obwohl sie unerreichbar gewesen war. Und jetzt fragte er sich: Vielleicht gerade weil sie unerreichbar gewesen war?
»Komm zu mir«, hatte sie gestern Abend am Telefon gesagt. »Ich halte es nicht aus, ich habe solche Angst.«
Eine halbe Stunde später hatte er neben ihr auf dem Sofa gesessen, sie hatten Wein getrunken, Corinna war immer dichter an ihn herangerückt, hatte sich schließlich an ihn gelehnt und angefangen, von früher zu reden. Angeblich waren die Zwillingsschwestern seinetwegen so gern nach Sylt gefahren, hatten dem Tag entgegengefiebert, an dem sie ihn wiedersehen würden, und sich auf die gemeinsamen Unternehmungen gefreut. Eriks Erinnerungen dagegen sahen ganz anders aus. Seine hilflose Verehrung für Corinna und Matildas schüchterne Liebe zu ihm, das waren die Grundlagen ihrer sogenannten Freundschaft gewesen. Mehr nicht! Erik hatte sich immer unterlegen gefühlt. Er war der Schwächere gewesen, weil er verliebt war und für seine Gefühle keine Liebe erntete, weil Corinna über ihn lachte, wenn er den Lebensstil ihrer Eltern bestaunte, weil ihre Mutter indigniert die Augenbrauen hob, wenn sie hörte, dass er Polizeibeamter werden wollte, und ihr Vater ihm vorrechnete, mit welchem Hungerlohn er würde auskommen müssen. Sogar Matilda gegenüber war er der Schwächere gewesen. Er hatte nie über ihre Gefühle gelacht wie Corinna über seine, er hatte unter ihnen gelitten. Ertragen hatte er sie nur, weil Corinna alles dransetzte, ihrer Schwester nicht wehzutun. Wenn Eriks Schwärmerei zu deutlich wurde, hatte sie ihn mit einem Scherz auf den Boden der Realität zurückgeholt, wenn er Matilda von ihren Unternehmungen ausschließen wollte, um mit Corinna allein sein zu können, hatte sie dafür gesorgt, dass Matilda trotzdem mitkam. Nun plötzlich fragte er sich, ob Corinna ihn deshalb zurückgewiesen hatte, weil Matilda in ihn verliebt gewesen war. Hatte sie doch etwas für ihn empfunden, sich aber ihre Gefühle nicht zugestanden, weil sie ihre Schwester nicht verletzen wollte?
Er ließ Corinna reden und korrigierte sie nicht, weil er den Eindruck hatte, dass es ihr guttat, ihre Jugend zu verherrlichen. Wenn schon die Gegenwart so schrecklich war, sollte wenigstens die Vergangenheit eine schöne Erinnerung sein. Aber irgendwann hatte er doch Einwände erhoben. »Wir waren keine guten Freunde,
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