Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
entkommen?
Mamma Carlotta fiel nichts Besseres ein, als in Käptens Kajüte einen Cappuccino zu trinken. Sie musste sich von ihren Gedanken und Sorgen ablenken.
Sie suchte die Mappe mit den Unterschriftenlisten heraus und klemmte sie sich unter den Arm. Bei dieser Gelegenheit würde sie an ein paar Türen klingeln, vor denen noch kein Mitglied der Bürgerinitiative erschienen war, dann hatte sie später eine gute Erklärung für ihre Abwesenheit.
Die Kinder schliefen noch, Sören hatte sein Frühstück hinuntergeschlungen, um Erik so schnell wie möglich zu folgen, und ob die beiden zum Mittagessen erscheinen würden, war mehr als fraglich. Vermutlich würde Erik sich gegen Mittag mit Corinna Matteuer in einem schicken Restaurant treffen und an seine Familie nicht einmal denken! Und der arme Sören musste dann irgendwo an einer Straßenecke eins dieser schrecklichen Fischbrötchen verdrücken!
»Madonna!«, flüsterte Mamma Carlotta immer aufs Neue, während sie das Haus verließ. »Was soll aus uns werden, wenn Enrico sich ernsthaft in Corinna Matteuer verliebt? Warum nicht in eine nette Frau wie Wiebke Reimers?«
Als der Wind ihr die Kapuze vom Kopf riss, beschloss sie, das Fahrrad im Schuppen zu lassen und zu Fuß zu gehen. Sie würde heute noch mal ein ernstes Wort mit Tove und Fietje reden, die beiden mussten auch erfahren, dass ihre Namen gefallen waren, als Erik mit seinen Ermittlungen im Mordfall Dennis Happe begonnen hatte. Tove und Fietje hofften vermutlich darauf, dass Mamma Carlotta ihre Teilnahme an der Demonstration verschwiegen hatte. Aber das kam nicht infrage!
»No!«, murmelte sie. »La famiglia geht vor.«
Als sie von der Westerlandstraße in den Hochkamp einbog, flogen ihre schweren Gedanken und Sorgen endlich davon. Sie genoss die Fußwege, die auf Sylt viel breiter waren als in ihrer Heimat. Meist waren sie sogar vollkommen eben, von flachen Häusern gesäumt, die auf großen Grundstücken standen, während in Umbrien die Gassen schmal und die Häuser hoch waren, damit die Sonne sich so wenig wie möglich in die Dörfer drängen konnte. Dort musste man den Kopf in den Nacken legen, um den Himmel zu sehen, auf Sylt schienen alle Wege direkt dorthin zu führen. In den Wind, in die Wolken, auf die Sonne zu. Wenn sie überhaupt zu sehen war! Und wenn der Wind einem nicht so eiskalt entgegenfuhr, dass man den Kopf einziehen und alles festhalten musste, was er an sich reißen wollte.
So hatte es Mamma Carlotta gemacht, und deswegen fiel ihr das Auto, das ihr entgegenkam, auch erst im allerletzten Moment auf, als sie kurz vor Käptens Kajüte die Straßenseite wechseln wollte. Es bog aus der Westerstraße in den Hochkamp ein, und Mamma Carlotta stellte erschrocken fest, dass niemand hinter dem Steuer saß. Es handelte sich um einen Kastenwagen, der nicht schnell fuhr, der aber, führerlos, wie er war, auf die Gegenfahrbahn schlingerte und sich einem Friesenwall näherte … da plötzlich schoss ein rotgelockter Kopf in die Höhe, das Steuer wurde herumgerissen, und der Wagen kam direkt auf Mamma Carlotta zu. Entsetzt sprang sie zur Seite und rettete sich in den Schutz einer Mülltonne.
Aber in diesem Augenblick hatte Wiebke Reimers die Gewalt über ihr Fahrzeug zurückerobert. Sie bremste und ließ die Seitenscheibe herunter. »Haben Sie etwa Angst vor mir?«
Mamma Carlotta hielt die Hand auf ihr rasendes Herz, atmete tief durch, wartete, bis ihre Knie zu zittern aufgehört hatten, dann antwortete sie: »Nicht vor Ihnen, aber vor Ihren Fahrkünsten.«
Wiebke lachte. »Mir war meine Zeitung runtergefallen.« Sie hielt das Inselblatt in die Höhe, ließ die Scheibe wieder hoch und stieg aus. »Wollen Sie zufällig in Käptens Kajüte einen Kaffee trinken? Dann bin ich dabei!«
Mamma Carlotta nickte, wollte darauf hinweisen, dass der Wagen alles andere als vorschriftsmäßig geparkt war, aber Wiebke Reimers fand anscheinend, dass die Straße breit genug war und es nicht darauf ankam, ein Auto parallel zur Fahrbahn abzustellen.
Während sie auf die Eingangstür von Käptens Kajüte zugingen, fragte Wiebke: »Haben Sie schon das Inselblatt gelesen? Tolles Foto von Ihnen!«
Mamma Carlotta war sprachlos, als Wiebke ihr die Zeitung hinhielt. »Dio mio! Das bin ja ich!«
Wiebke schob sie über die Schwelle der Imbissstube, während sie gleichzeitig las, was Menno Koopmann über die Demo gegen Corinna Matteuer und über die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars Erik Wolf geschrieben hatte.
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