Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
dachte trotzdem, dass Sie es wissen sollten. Es handelt sich nämlich um die Ferienwohnung, die für Dennis Happe angemietet wurde.«
W as für ein Glück, dass Mamma Carlotta die Leiterin des privaten Pflegedienstes häufig beim Bäcker gesehen und natürlich auch gesprochen hatte. Frau Ferchen hatte, ebenso wie der Bäcker, eine Schwester, die mit einem Türken verheiratet war und in dessen Heimat lebte. Sie fühlte sich dem Bäcker also in der gemeinsamen Sorge verbunden, dass niemand, der mit Labskaus und Krabbenbroten groß geworden war, für den Rest seines Lebens mit Kebab oder Köfte auskam. Mamma Carlotta konnte diese Ängste teilen, denn auch ihre Tochter war ja mit Antipasti, Primo, Secondo und Dolce aufgewachsen und hatte sich daran gewöhnen müssen, dass ihre Familie auf Sylt in regelmäßigen Abständen Kartoffelsalat mit gebratenem Fischfilet auf den Tisch bekommen wollte und auf die anderen Gänge gerne verzichtete. Wie weit Glück und Zufriedenheit von der Art der täglichen Mahlzeiten abhingen, wurde vor der Theke des Bäckers immer wieder diskutiert, und so war die Pflegedienstleiterin eine gute Bekannte von Mamma Carlotta geworden.
Frau Ferchen war auf dem Weg zu einem alten bettlägerigen Herrn in der Berthin-Bleeg-Straße und hatte den Weg am Dorfteich entlang genommen. Die humpelnde Mamma Carlotta war ihr sofort aufgefallen, sie hatte neben ihr angehalten und besorgt nachgefragt. Als sie hörte, dass ihre italienische Bekannte über einen Stein gestolpert und umgeknickt war, hatte sie sich sofort erboten, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen und sie nach Hause zu fahren.
»Kalte Umschläge und den Fuß hochlegen!«, hatte sie noch empfohlen, bevor Mamma Carlotta mit vielen »Grazie tante!« und »Molto gentile!« aus dem Auto gestiegen war.
Selbstverständlich hatte sie beteuert, dass sie die Ratschläge befolgen wolle, sich dann aber sofort in die Küche begeben, weil es Zeit wurde, mit dem Mittagessen zu beginnen. Noch nie in ihrem Leben hatte die Familie aufs Essen warten müssen, weil man ihr geraten hatte, die Füße hochzulegen.
Zum Glück hatte sie die Sardinen, die sie mit Ciabatta servieren wollte, schon am Vormittag gebraten und mariniert. Auch die Minestra di broccoli brauchte nur noch mit frisch geriebenem Parmesan verfeinert zu werden. Den Brokkoli hatte sie gekocht, noch ehe die Kinder zum Frühstück erschienen waren, ebenfalls die Spaghetti und die Tomaten, die klein geschnitten in die Suppe kamen. Als Dolce würde sie einen Teller mit Torrone neben die Espressotassen stellen, ein Gebäck, das in ihrer Heimat eigentlich erst in der Vorweihnachtszeit auf den Tisch kam. Aber Mamma Carlotta liebte es, und da sie wusste, dass auch Erik und die Kinder es liebten, stellte sie es immer her, wenn sie nach Sylt kam. Die Torrone bestanden aus Mandeln, Feigen, Haselnüssen und Honig, dann waren es die weißen Torrone, manchmal gab sie auch Schokolade hinzu, weil Felix besonders die braunen Torrone liebte. Schon vor Tagen hatte sie sie gebacken und hielt sie in einer Dose frisch. Nur Cacciucco alla livornese musste noch zubereitet werden. Bei Feinkost Meyer war die Fischtheke besonders gut bestückt gewesen. Sie hatte Knurrhahn, Meerbarbe, Dorsch, Heilbutt und Makrele bekommen, eine Vielfalt, die den Reiz dieses toskanischen Fischeintopfs ausmachte. Miesmuscheln waren zwar nicht im Angebot gewesen, dafür aber kleine Tintenfische, was genauso gut war.
Beim Ausnehmen der Fische ließ sich wunderbar nachdenken, wenn sie das Gewicht auf den gesunden Fuß verlagerte und an den anderen so wenig wie möglich dachte. Die Frage, ob es richtig gewesen war, Frau Ferchen etwas von einem Stolperstein zu erzählen, statt ihr die Wahrheit zu gestehen, war schnell mitsamt den Heilbuttgräten in den Müll gewandert. Diese Ausrede gehörte in den Bereich der Notlügen, die sogar der Pfarrer ihres Dorfes verzeihen würde, der es mit dem Sündenerlass sonst sehr genau nahm. Wie hätte sie Frau Ferchen auch erklären sollen, dass sie aus dem Badezimmerfenster einer Ferienwohnung geklettert war? Die Erkenntnis, dass ihr für solche Eskapaden mittlerweile wohl der rechte Schwung fehlte, hatte ihr schon schwer genug zugesetzt. Sie war nicht dynamisch, mit einem federnden Sprung, auf die Beine gekommen, sondern zu Boden geplumpst wie einer der Mehlsäcke von Signor Passavo, wenn er sie aus einem Fenster seiner Mühle auf den Anhänger seines Traktors stieß. Die Flucht war ihr zum Glück trotz des
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