Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
umgeknickten Fußgelenks gelungen, anscheinend war ihre Angst so groß gewesen, dass die Schmerzen erst zur Last geworden waren, als sie sich auf sicherem Terrain befand.
Mamma Carlotta legte die gesäuberten Fische auf ein Küchenbrett und begann sie kleinzuschneiden. Jetzt erst konnte sie sich die Fragen stellen, die sie beinahe noch mehr bedrückten als das schmerzende Fußgelenk. Wohin war Corinna Matteuer verschwunden? Der dunkelgraue Range Rover hatte nicht mehr an seinem Platz gestanden, als Mamma Carlotta den Heimweg antrat. Und was hatte Wiebke Reimers in dieser Ferienwohnung zu suchen gehabt? Welche von den beiden hatte nun eigentlich die Scheibe eingeschlagen? Und warum? Wenn Corinna Matteuer nichts mit diesem Einbruch zu tun hatte, was hatte sie dann an den Dorfteich geführt? Und warum hatte sie versucht, unerkannt zu bleiben? Und Wiebke Reimers? Jemand, der ein reines Gewissen hat, flüchtet nicht durch ein Badezimmerfenster!
Mamma Carlotta schnitt Staudensellerie, Möhren, Zwiebeln und Knoblauch in kleine Würfel und gab das Gemüse mit dem Fisch in die Brühe, die gerade zu kochen begann. Alles schien an der Frage zu haften, wer zurzeit in dieser Ferienwohnung lebte. Ein Mann, so viel stand fest! Ein Mann, der etwas besaß, was Corinna Matteuer haben wollte? Ein Mann, in dessen Apartment Wiebke Reimers etwas vermutete, was sich in der Mattino als Sensation veröffentlichen ließ?
Die Enttäuschung wog so schwer, dass sie die Tomatensoße, in der sie später die gekochten Fischstücke servieren wollte, versalzte. Zum ersten Mal in ihrem Leben! Angewidert schüttete sie die Soße in den Ausguss und wollte es gerade erneut versuchen, als das Telefon klingelte. Eilig nahm sie den Hörer ab, froh über die Unterbrechung ihrer schweren Gedanken.
»Enrico!«, rief sie erfreut, als ihr Schwiegersohn sich meldete. Aber dann fiel ihr ein, dass sie ihm sein Fernbleiben in der vergangenen Nacht noch nicht verziehen und dass ein Anruf kurz vor Mittag nichts Gutes zu bedeuten hatte. »Wirst du etwa nicht zum Mittagessen kommen können? Es gibt Cacciucco alla livornese.« Am liebsten hätte sie ergänzt: »Obwohl du es nicht verdient hast!«, aber sie bezwang sich.
Erik bedauerte ausgiebig, außerordentlich zuvorkommend und für einen Friesen ungewöhnlich wortreich, dass ihm die Arbeit wichtiger sein musste als der toskanische Fischeintopf, den er sehr liebte. »Aber es hilft nichts. Ich muss zum Dorfteich. Dort ist eingebrochen worden. Ich hoffe, es dauert nicht lange.«
Mamma Carlotta räusperte sich und rückte ihre Stimme zurecht, ehe sie antwortete: »Einbruch am helllichten Tage? Incredibile!« Sie war sicher, dass sie genug Entrüstung in ihre Stimme gelegt hatte, und wagte daher scheinheilig zu ergänzen: »Im Haus einer reichen Familie?«
»Nein, eine Ferienwohnung. Mal sehen, was gestohlen wurde.«
Mamma Carlotta hatte das Telefongespräch gerade beendet, da sah sie, dass eine Taste des Anrufbeantworters rot blinkte. Das war ihr bei ihrer Heimkehr gar nicht aufgefallen.
Sie drückte die Taste, und nach einem kurzen Rauschen ertönte Carolins Stimme: »Hallo, Nonna! Felix und ich sind mit den Unterschriftenlisten unterwegs. Wir haben gesehen, dass deine Liste nicht mehr in der Küche lag, du sammelst also auch gerade Unterschriften. Wir treffen uns heute Mittag in der Sportlerklause mit allen anderen von ›Verraten und verkauft‹ und zählen die Unterschriften zusammen. Kommst du auch? Dann brauchst du heute Mittag nicht zu kochen. Papa und Sören werden schon klarkommen.«
Ärgerlich starrte Mamma Carlotta in den Topf, in dem die Fische kochten. Was nun? In die Sportlerklause humpeln und sich dazu bekennen, dass keine einzige Unterschrift auf ihre Liste gekommen war? Unmöglich! Darauf warten, dass Erik und Sören sich verspätet einfanden und von dem Einbruch erzählten? Mamma Carlotta zögerte. Warten war nicht ihre Sache, aber dass sie wissen wollte, was es mit dem Einbruch am Dorfteich auf sich hatte, stand fest.
Also beschloss sie, die Wartezeit mit etwas zu füllen, was ihr angenehm war. Das konnte zum Beispiel die Gesellschaft der Nachbarin sein, die sicherlich gerne bereit war, sich mit ihr über die Titelseite des Inselblattes auszutauschen, auf der Mamma Carlotta zu sehen war. Mit Frau Kemmertöns, einem Espresso und einigen Stücken Torrone würde die Zeit, bis Erik und Sören eintrafen, schnell vorübergehen.
Als es an der Tür klingelte, kam ihr auch die Möglichkeit in den
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