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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Neureiter
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Urgroßmutter.« Einen Moment verweilte sie mit ihrer Hand auf der Halskette. Dann fasste sie in ihre Handtasche und entnahm ihr ein paar computerbeschriebene Seiten, die mit handschriftlichen Vermerken übersät waren.
    Bevor Jenny sich in die Unterlagen vertiefte, warf sie rasch einen Blick durch die Heckscheibe. Lenz stand vor dem Burgtor. Neben ihm erkannte sie Viola, die seinen Arm ergriff.
    Jenny war bei der Postbrücke angelangt. Wie die zahlreichen prachtvollen Villen der Stadt erinnerte auch dieses Jugendstilbauwerk an Merans glanzvolle Zeiten, die mit dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende gefunden hatten. Auf der gegenüberliegenden Seite der Passer befand sich das Kurhaus, ein Relikt aus der Vorkriegszeit. Damen mit ausladenden Hüten und Herren im Gehrock waren die Promenaden entlanggeschritten und auf den Spuren der österreichischen Kaiserin Elisabeth gewandelt, die in der Stadt an der Passer zur Kur gewesen war. Sissi-Weg, Sissi-Denkmal und der Kaiserin-Elisabeth-Park erinnerten an den royalen Gast.
    Mit einer energischen Handbewegung verscheuchte Jenny die Melancholie, die beim Gedanken an Merans vergangene Epoche von ihr Besitz ergriffen hatte. Um die Kurstadt musste man sich keine Sorgen machen. Meran war wiederholt in einen Dornröschenschlaf verfallen und daraus bisher jedes Mal in neuer Blüte hervorgegangen.
    Beim Überqueren der Postbrücke fielen Jenny zwei Kanufahrer auf, die im Fluss mit der Strömung kämpften. Wild schwangen ihre Paddel in den Fluten, immer wieder drohten die winzigen Boote zu kentern. Mit deren Insassen würde sie um keinen Preis tauschen wollen. Wasser war absolut nicht ihr Element. Jenny wandte sich von den beiden Gestalten in ihren bunten Neoprenanzügen ab und setzte ihren Weg fort.
    *
    In dem nach dem Architekten des Meraner Kurhauses benannten Ohmann-Saal saß Maurice Jungmann und rückte den Knoten seiner Krawatte zurecht. Heute hatte er sich für ein kräftiges Magentarot entschieden, das dem taubenblauen Zweireiher eine geradezu verwegene Note gab. Ihm gegenüber saß Beppo Pircher.
    Der Reporter hatte den Professor gestern Abend um ein Exklusivinterview gebeten. Maurice hatte ihn zunächst auf die Pressekonferenz verwiesen. Doch der Journalist blieb hartnäckig. Er wollte mit ihm über sein neues Buch reden, das demnächst erscheinen sollte. Schließlich hatte Maurice dem Drängen des Mannes nachgegeben und ihn für heute Morgen ins Kurhaus gebeten. Anschließend würde der Professor gemeinsam mit Arthur und Kateryna die Pressekonferenz zum Auftakt des Symposiums bestreiten.
    »Ihr vorheriges Buch war nicht mehr so erfolgreich. Wie erklären Sie sich diesen Flop?«
    Maurice musterte den Mann, der ihm gerade die Frage gestellte hatte. Bisher war alles reibungslos verlaufen. Er hatte von seiner Kindheit in den Schweizer Bergen berichtet, seiner Liebe zur mittelalterlichen Liedkunst, die dazu geführt hatte, dass er an der Hochschule für Alte Musik in Basel studiert und dort Karriere gemacht hatte und zu einem erfolgreichen Autor geworden war. »Mir ging es immer um das breite Publikum. Ich wollte die Massen begeistern, den Männern und Frauen auf der Straße vor Augen führen, wie großartig die mittelalterliche Musik und Dichtung sind«, hatte er Beppo Pircher routiniert erklärt.
    Der Journalist machte sich eifrig Notizen und fragte: »Warum haben Sie Bücher geschrieben und nicht selbst musiziert?«
    Maurice kannte diesen Einwand, darauf war er vorbereitet. »Ich bin kein Interpret, sondern will selbst etwas erschaffen. Daher habe ich Bücher geschrieben, Science-Fiction-Romane, wenn Sie so wollen, die auf einem wahren Kern beruhen und zugleich der Fantasie freien Raum lassen. Damit kann der Leser sich in die mittelalterlichen Dichter hineinversetzen, sich vorstellen, wie sie gelebt und ihre Werke geschrieben haben. Wie man am Verkaufserfolg sieht, ist es genau das, was die Leser wollen.«
    Beppo Pircher hatte an seinem Stift gekaut und ihm die Frage nach seinem letzten Buch gestellt. Maurice konnte es dem Journalisten nicht einmal verübeln: Im Vergleich mit seinen Vorgängern, die allesamt die Bestsellerlisten erobert hatten, war das Buch tatsächlich kein Erfolg gewesen. Im Spiegel, der sich an der gegenüberliegenden Wand befand, prüfte er den Sitz seiner Krawatte, danach antwortete er: »Was heißt Flop? Mir geht es darum, möglichst viele Menschen für die mittelalterliche Dichtkunst zu begeistern. Das ist mir gelungen, da kommt es auf die Verkaufszahlen

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