Kurschattenerbe
nutzen.
Eine schier endlos scheinende Minute lang hantierte sie an der Unterseite des Gerätes herum. Endlich gelang es ihr, den Schiebemechanismus zu betätigen und den Deckel zu öffnen. Sie drückte auf die Oberkante des Speicherplättchens und der Chip sprang heraus. Jenny steckte ihn in den entsprechenden Schlitz am Laptop.
Kaum hatte sie das erledigt, erschienen mehrere Symbole auf dem Bildschirm. Hinter welchem verbargen sich die Fotos? Jenny, die am Computer normalerweise nur das Schreibprogramm nutzte, befand sich auf Neuland. Ein paarmal kreiste sie mit der Maus und rätselte. Ah, hier: SD Drive (E:). Das könnte es sein. Jenny klickte das Symbol an. Zwei Ordner erschienen: ›DCIM‹ und ›MISC‹ lauteten die kryptischen Bezeichnungen. Jenny klickte den ersten der beiden Ordner an. Ein neuer Ordner mit dem Namen ›100CANON‹ tauchte auf. Das klang nach der richtigen Spur. Nachdem Jenny auch diesen Button angeklickt hatte, erschienen tatsächlich Fotos. Ungefähr briefmarkengroß war eines neben dem anderen aufgereiht. Zunächst waren ein paar Stimmungsbilder vom Eröffnungsabend zu sehen: Die Leute von der Schank in ihren mittelalterlichen Kostümen, die Musikanten mit ihren Instrumenten … Da war ihr ein Schnappschuss von Arthur und Maurice gelungen, wie sie gerade in ein Gespräch vertieft waren. Worum es da wohl ging?
Jenny bewegte die Bilderleiste weiter. Da, Lenz und Viola. Die beiden waren die Letzten, die sie sehen wollte. Es folgten die Fotos von der Pressekonferenz mit Kateryna, Maurice und Lenz auf dem Podium. Schon wieder Lenz. Weg mit ihm!
Am liebsten hätte Jenny diese Fotos gelöscht, entschied sich allerdings dagegen. Sie benötigte sie für die Dokumentation, die sie ihren Kunden zum Abschluss eines Auftrags zur Verfügung zu stellen pflegte.
Weiter in der Fotoreihe. Jenny betrachtete die Aufnahmen von der Rückseite der Burg, die sie am Nachmittag zuvor auf ihrem Weg nach St. Michaela gemacht hatte. Da war die Westseite von Schloss Tirol mit dem Bergfried, dem dahinterliegenden Mushaus und den niedrigeren Gebäuden des Wirtschaftstraktes. Jenny hatte die Aufnahme inzwischen angeklickt, sodass sie den Bildschirm nahezu ausfüllte. Nun erkannte sie auch das Objekt, auf das sie es abgesehen hatte. Ihr dringendes Bedürfnis, sich auf der Stelle die Fotos anzusehen, war nämlich keineswegs auf ein plötzlich erwachtes Interesse an Schloss Tirol zurückzuführen. Jenny ging es um das Gebäude, das sich unterhalb der Burg befand und das sie gestern bei ihren Aufnahmen gestört hatte. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit darauf.
Auf dem Foto, das sie gerade vergrößert hatte, war allerdings nicht viel zu erkennen. Das einstöckige Gebäude war ähnlich wie die Burg aus grauem Stein gemauert. Auf halber Höhe der Rückseite befanden sich drei Fensterluken, deren blinde Scheiben jegliche Sicht ins Innere verhinderten. Die darüberliegende, größere Maueröffnung war mit Holzbalken abgedichtet. Auch das spitz zulaufende Dach war mit Holz gedeckt.
»Könnte ein Stall oder eine Scheune sein«, überlegte Jenny laut. Gegen einen Stall sprach allerdings, dass das Gebäude für die Haltung von Kühen zu klein war. Bot es etwa den Geißböcken Platz, die sie auf ihrem Weg nach St. Michaela gesehen hatte?
Jenny vergrößerte das Bild und konnte den Verschlag erkennen, der sich neben dem Gebäude befand. Dort waren Holzlatten und Brennholz gestapelt. Offenbar diente die Scheune als Lagerraum. Jenny vergrößerte um weitere 200 Prozent. Das brachte nichts. Die Ansicht wurde zu grobkörnig. Zurück zur Totalen, die das ganze Ensemble zeigte: Die Westfront der Burg mit Bergfried und Wirtschaftsgebäuden. Darunter befanden sich Reste der Burgmauer und vereinzelte Bäume. Ein Stück tiefer war die Scheune zu sehen.
Etwas passte hier nicht ins Bild. Was war es? Jenny hatte nur eine dunkle Ahnung, die Lenz mit seinem Fahrrad wachgerufen hatte. Sie vergrößerte auf 100 Prozent und sah auf ihrem Bildschirmausschnitt nur mehr die Burg. Sie scrollte nach unten, dann nach links. Die Scheune erschien. Nun erkannte sie, was sie irritiert hatte. Im Verschlag neben dem Gebäude blitzte etwas Blaues auf.
Jenny probierte es mit 150 Prozent. Die Ansicht wurde verschwommener, einzelne Details waren jedoch erkennbar. Jenny sah es deutlich. In dem Verschlag lehnte etwas an dem Holzstapel. Sie hätte nicht beschwören können, worum es sich bei dem Gegenstand handelte. Eines war allerdings gewiss: Das Ding,
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