Kurschattenerbe
das da stand, war leuchtend blau – und wenn sie nicht alles täuschte, handelte es sich dabei um ein Fahrrad.
Je länger sie den Bildausschnitt betrachtete, desto sicherer war sie, dass sie eines der Hotelfahrräder vor sich sah. Sie vermochte nicht genau zu sagen, woher sie ihre Gewissheit nahm. Sie vertraute einfach ihrem Instinkt, der sie unweigerlich zu der Frage führte, was ein Hotelfahrrad aus dem Tirolia beim Verschlag neben der Scheune zu suchen hatte. War es möglich, dass Arthur zur Burg geradelt und ihm dabei etwas zugestoßen war?
Die SMS, die er geschickt hatte, widersprach dieser These. Trotzdem wurde Jenny den Verdacht nicht los, dass es zwischen Arthurs Verschwinden und dem Rad, das sie auf dem Foto zu erkennen glaubte, einen Zusammenhang gab. Sie erinnerte sich an den Radler, den sie am Vortag in aller Herrgottsfrüh von ihrem Balkon aus hatte vorbeiflitzen sehen. Auch der hatte ein blaues Fahrrad gehabt. Möglich, dass es einen Zusammenhang gab.
Wieder betrachtete Jenny das Bild auf ihrem Laptop. Plötzlich wurde die Tür zum Cernysaal geöffnet.
»Frau Dr. Sommer, wenn ich nicht irre. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
Der modisch gekleidete junge Mann zückte einen Ausweis. »Inspektor Comploi vom Kommissariat Meran.«
Jenny erhob sie sich von ihrem Sessel und warf einen flüchtigen Blick auf das Dokument. Augenblicklich ließ sie sich wieder auf ihren Sitz sinken und winkte den Inspektor näher heran. »Am besten, Sie setzen sich zu mir. Ich habe gerade etwas sehr Wichtiges entdeckt.«
Der Kriminalbeamte schien zunächst zu zögern, ging jedoch um Jennys Schreibtisch herum und zog sich einen Sessel heran. Kaum war sie sich der Aufmerksamkeit des Mannes gewiss, fuhr sie mit dem Cursor über das Bild. An der Stelle, wo der blaue Gegenstand zu sehen war, hielt sie inne.
»Das ist ein Fahrrad vom Hotel Tirolia. Ich habe es gestern Nachmittag auf dem Weg nach St. Michaela fotografiert.« Jenny bewegte den Cursor an der betreffenden Stelle ein paar Mal hin und her.
»Und was schließen Sie daraus?«, fragte er.
»Dass dieses Fahrrad dort, wo ich es fotografiert habe, nicht hingehört«, antwortete sie, ohne zu zögern. Sie sah zu Comploi auf, der über den Laptop gebeugt stand. »Ich an Ihrer Stelle würde mir das Rad genauer ansehen. Immerhin …« Jenny unterbrach sich und überlegte: Wenn sie das vermeintliche Fahrrad mit Arthurs Verschwinden in Zusammenhang brachte, würde der Inspektor ihre Vermutung wohl als Hirngespinst abtun. Blitzschnell traf sie eine Entscheidung. »Immerhin befindet es sich an einem Ort, in dessen Nachbarschaft erst vor Kurzem ein Mord geschehen ist.«
----
1 Südtirolerisch: Ihr (direkte Anrede, Plural)
VIERZEHN
»Na, nit des rechte. Des linke Aug’ hat er zuag’habt.« Ein flachsblondes Mädchen mit unkleidsamer Krankenkassenbrille deutete eifrig auf ein Blatt Papier, das vor ihr in der Wiese lag. Das zweite Mädchen, unter deren Basecap dichte Wuschellocken hervorragten, kniete auf dem Boden und vollführte Pinselstriche. Neben ihr stand ein Glas Wasser, in dem sie immer wieder ihren Pinsel befeuchtete, um ihn anschließend in den Malkasten zu tunken, der ebenfalls auf der Wiese drapiert war.
Die beiden Mädchen waren so eifrig bei der Sache, dass sie den Mann, der sich hinter einem Baumstamm verbarg und sie beobachtete, nicht bemerkten. »Da schau, so muass er ausschaug’n«, sagte die Flachsblonde und hielt der anderen eine Zeichnung hin. Der Wuschelkopf betrachtete die Vorlage und schüttelte mehrmals den Kopf. »Ni 1 , nicht das linke, das rechte.«
Lenz Hofer konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Minutenlang beobachtete er die beiden, wie sie mit Feuereifer versuchten, ein Bild zu malen. Die kleinere und unattraktivere war eindeutig Kristl, die Tochter von Martha Tappeiner. Der Wuschelkopf war Sascha.
Lenz war es, nachdem er die Verfolgung aufgenommen hatte, gelungen, Sascha auf den Fersen zu bleiben. Das war weiter nicht schwierig gewesen. Denn trotz der für ihr Alter erstaunlich guten Kondition hatte sie einige Mühe gehabt, die stetig ansteigende Straße zu bewältigen. Schwieriger war es für Lenz gewesen, unbemerkt zu bleiben. Doch nachdem Sascha die Altstadt durch das Passeirer Tor verlassen hatte, war rasch klar, wohin die Reise ging. Das Mädchen hatte offensichtlich vor, die alte, wenig befahrene Straße nach Dorf Tirol zu nehmen. Was es dort wollte, konnte Lenz sich nicht vorstellen. Ein Gefühl sagte ihm, dass es sich lohnte,
Weitere Kostenlose Bücher