Kurt Ostbahn - Schneeblind
höchstwahrscheinlich sofort ins nächste Hotel ziehen und dort als John Doe einchecken, denn unbekannte Tote kriegen keine Faxe.
Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden, denn es müssen die neuesten Testergebnisse abgewartet werden. Aber ich tendiere immer mehr zu dieser Verkäuferin, die ich jeden Werktag von meinem Wohnzimmerfenster aus dabei beobachte, wie sie pünktlich um halb zehn die Damen-Boutique auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufschließt. Die Mode in dem Schaufenster ist nicht nach meinem Geschmack, schlimmer, sie mißfällt mir, ist mir ein Dorn im Auge. Die Verkäuferin - oder ist die junge Frau gar die Besitzerin des Ladens? —findet offenbar Gefallen an den Modellen, die sie verkauft, denn sie selbst ist auch in diesem Stil gekleidet, den man nur als abstoßend-aufreizend bezeichnen kann.
Der Anblick der Kleiderpuppe im Schaufenster und der Anblick der Verkäuferin reizen meine Sinne dermaßen, daß das Tosen in meinem Kopf anschwillt und anschwillt, bis es in einem roten Himmel explodiert.
Mein Tosen beginnt mit dem Summen eines Bienenschwarms, der rasch näherkommt, viel rascher als sich diese nützlichen und niedlichen Tierchen tatsächlich fortbewegen können. Danach klingt es, als wäre ich in einer überfüllten Bahnhofshalle. Hunderte Menschen reden in vielen Sprachen wild durcheinander, begrüßen und verabschieden sich, machen Geschäfte, tauschen Informationen aus. Ich bin dazu verurteilt, ihnen zuzuhören, bis das geschäftige, hektische Murmeln zu einem Dröhnen angewachsen ist. Dann bin ich in einem freien Feld, am Rande einer Landebahn, und ein Passierflugzeug hebt wenige Meter neben mir ab, fliegt aber nicht über meinen Kopf hinweg, sondern durch ihn hindurch, und der dröhnende Lärm der Triebwerke verfärbt alles in meinem Kopf zu einer blutroten Wolkenlandschaft, die mit einem gewaltigen Knall explodiert. Die Wolkenberge lösen sich auf, werden zu blutroten Regentropfen und Schneeflocken und Hagelkörnern, oder manchmal fliegen sie auch als Plasmasäckchen oder Blut-UFOs hinaus ins All zu den Sternen.
Danach herrschen Stille, Leere und Frieden in meinem Kopf, aber ich bin erschöpft und unendlich müde. Ich muß mich für eine halbe Stunde hinlegen und die Augen schließen, weil mir der Anblick der Welt brennende Schmerzen bereitet.
Ich habe mich, während ich auf die neuen Testergebnisse warte, für die Verkäuferin oder Besitzerin der Mode-Boutique entschieden, weil ihr Tod zwar nicht das Ende des Tosens bedeutet, aber die Frequenz zumindest deutlich verringern wird.
Wie Sie wissen, herrschte bei mir oft ziemliche Unordnung, für die ich bereit war, auch die härtesten Strafen hinzunehmen, und mein Benehmen (vor allem die heimlichen Sünden und Vergehen gegen Sitte und Anstand) haben immer wieder Ihren gerechten Zorn erregt und mir so manche höchst schmerzhafte Züchtigung eingebracht. Derzeit jedoch - freue ich mich, Ihnen mitteilen zu dürfen - bin ich auf dem Pfad der Tugend, halte peinlichst Ordnung und bin davon überzeugt, in meinem Kampf gegen das Tosen endlich die richtige Strategie gefunden zu haben.
In wenigen Stunden wird die junge Frau von gegenüber wieder ihren Laden aufschließen und ihren textilen Schund anderen Schlampen zum Kauf anbieten. Bei meinen kleinen täglichen Spaziergängen habe ich herausarbeiten können, daß das Geschäftslokal einen Hinterausgang hat, der in das Stiegenhaus führt, und zu einer Gangtoilette, die der Mode-Boutique zur Verfügung steht. Außerdem habe ich in den letzten Monaten genau über die Öffnungszeiten Buch geführt und auch darüber, wann und von wem die Verkäuferin nach Ladenschluß abgeholt wurde.
Meine Statistik besagt, daß es seit Anfang Dezember nur drei Menschen gab, die kurz vor 19 Uhr 30 die Boutique betreten und sie zirka eine halbe Stunde später zusammen mit der Verkäuferin wieder verlassen haben: dreimal war es eine Frau um die 50, bei der es sich um die Mutter der Observierten handeln könnte; vor den Weihnachtsfeiertagen sechsmal ein Mann, zirka 30, der sie mit einem weißen oder beigen Kleinwagen von der Arbeit abgeholt hat; sowie letzten Mittwoch eine Frau, zirka 28, mit Kinderwagen, vielleicht eine Freundin oder die ältere Schwester.
Wie Sie sehen, haben Ihre erzieherischen Maßnahmen gefruchtet und endlich dazu geführt, daß ich Ordnung nicht nur in meinen Alltag, sondern auch in meine Kopfprobleme gebracht habe und nun konsequent und gewissenhaft deren Lösung anstrebe.
Die
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