Kurt Ostbahn - Schneeblind
stets kleine Biere vom Faß, flankiert von ihren treuen Begleitern, den großen Fernets. Und ich bin mir ganz sicher, daß in der Flasche, wo Fernet draufsteht, auch Fernet drin ist, weil es nämlich auch zur Tradition des Hauses gehört, daß der Wirt mit mir Magenbitter trinkt. Es gab Nächte im Rallye, da stand die Flasche Fernet die ganze Nacht lang zwischen uns auf der Theke — vom Augenblick ihrer feierlichen Öffnung bis zum letzten Tropfen irgendwann nach Sonnenaufgang.
Heute ist nicht so eine Nacht. Heute ist ein klarer Kopf gefragt. Der nervöse Magen muß sich mit ein, zwei wärmenden Stamperln bescheiden. Der Mensch als Ganzes kann nicht immer alles haben.
Außerdem macht der Herr Josef nicht den Eindruck, als würde ihm das Reden und Trinken in seinem vom Schneesturm leergefegten Etablissement heut noch viel Freude machen. So wie er dreinschaut, als er die erste traditionelle Mischung des Abends vor mich hinstellt, will er seinen einzigen Gast ehebaldigst wieder loswerden, den Laden zumachen und heim in seine sicherlich besser gegen Wind und Wetter geschützte Wohnung, die er sich seit seiner zweiten Scheidung vor gut fünfzehn Jahren mit der Martha, seiner jüngeren Schwester, teilt.
»Is ja kein Wunder«, sagt der Herr Josef, und dabei schweift sein müder Blick über das halbe Dutzend leerer Tische und die schweigende Jukebox. Ich bin mir nicht ganz sicher, was der Herr Josef meint, aber ich kann es mir denken.
»Bei dem Sauwetter, Herr Josef«, sage ich. »Wer geht da schon freiwillig aus dem Haus?«
In den letzten Monaten begrüßt er mich fast immer mit bitteren Klagen über das Wetter, das ein massives Ausbleiben der Kundschaft zur Folge hat, alles ältere Menschen, die den Parkplatz daheim vorm Fernseher einem beschwerlichen Espressobesuch vorziehen. Wer an einer Verkühlung oder saisonal bedingten Beschwerden im Kreuz und den Gelenken laboriert, der setzt sich nicht ins zugige Rallye und liegt danach wochenlang mit einer Lungenentzündung oder einer schweren Rheuma-Attacke danieder.
Das hab ich neulich einmal versucht, dem Herrn Josef zu erklären. Aber er war nicht wirklich einsichtig. Vielleicht wurde er es, nachdem wir gemeinsam eine Flasche Fernet geleert hatten, aber daran fehlt mir die Erinnerung.
»Es liegt ned nur am Wetter, Herr Kurt«, sagt der Herr Josef und hebt matt sein Glas Magenbitter. »Es san vor allem die Zeiten.«
Auch jetzt weiß ich nicht ganz genau, was der Herr Josef meint, aber auch jetzt kann ich es mir denken.
Das Cafe Rallye ist ein Lokal, dem seine alten Gäste abhanden kommen, weil sie mehr oder weniger freiwillig ins Senioren- oder Pflegeheim abwandern bzw. dem Herrn Josef wegsterben, wie neulich erst der alte Kaiblinger, der »derrische Postler«, der nach dem Tod seiner Frau sicherlich mehr Zeit im Rallye verbracht hat als daheim in der verwaisten Wohnung. Der Kaiblinger starb vor drei Wochen mit 78 an einem Schlaganfall, als er von seinem Hausarzt auf dem Weg in sein Stammlokal war.
Den nachfolgenden Generationen bietet das Cafe Rallye leider nichts, das sie an das »grindige Tschocherl« (O-Ton Doktor Trash bei seinem ersten von maximal fünf Besuchen seit 1994) wirklich binden könnte. Streng gesprochen erreicht es bei den Kriterien Design, Musik, Hygiene, Angebot und Service null bis maximal drei von fünf Punkten. Nur in der Preisgestaltung gibt es eine klare Fünf, weil der Herr Josef seine Preise nur sehr zögerlich anhebt, also derzeit etwa beim Stand von 1985 hält.
»Auf die Gsundheit, weil davon haben wir nur eine«, sagt mein Wirt und prostet mir zu.
»Gsundheit, Herr Josef«, sage ich. Dann streicheln wir schweigend unsere Magenwände mit dem ersten Schluck Fernet des Abends.
»Apropos: Der Trainer kommt dann bald vorbei, weil wir haben dringend was zu besprechen, und so gegen neun erwarten wir einen wichtigen Anruf und eventuell Damenbesuch«, sage ich, während der nervöse Magen freudig die alkoholische Kräutermischung begrüßt.
»Da bei mir?« Der Herr Josef scheint darüber gar nicht glücklich.
»Oder wollen Sie heut früher zumachen?«
»Ich mach zu, wann die letzte Kundschaft heimgehen will, Herr Kurt, das wissen Sie doch ganz genau. Weil dafür bin ich schließlich da, ned?«
Der Herr Josef kippt den letzten Rest Fernet und geht dann ab in die Kochnische hinter der Bar, in der seit letzten Sommer nicht mehr gekocht wird.
Ganz früher, als ich aus Simmering in die Gegend gezogen bin, hatte der Herr Josef noch eine
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