Kurt Ostbahn - Schneeblind
realisierbar, wenn wir wieder aus dem Studio zurück sind. Und dann ist es wahrscheinlich zu spät.«
»Ich hab heut abgesagt«, eröffnet mir der Trainer.
»Du hast abgesagt?«
»Du warst nicht erreichbar, Kurtl, und irgendjemand mußte eine Entscheidung treffen. Ich kann nicht in Ollersbach im Studio hocken und eine Platte produzieren, wenn ein Wahnsinniger frei herumläuft, der Nora oder mich oder uns beide schnetzeln will! Und du wirst eventuell auch nicht wahnsinnig entspannt musizieren, so lang dieser Kreuzschinder die Messer wetzt, oder?«
»Wir vertagen. Verstehe«, sage ich. » Auf wann?«
»Ich hab vorerst auf nächsten Dienstag verschoben. Dem Ricky war das gar nicht unangenehm, weil er eh noch was fertig mischen muß, eine Filmmusik für einen Fernsehkrimi, originellerweise über den Mord an einer Hoteliersgattin im Salzkammergut, die ein Doppelleben als Domina führt. Das Thema liegt irgendwie in der Luft.«
»Eine sehr beeindruckende Person«, sage ich mit vollem Mund, obwohl ich weiß, das gehört sich nicht.
»Du kennst sie, die Hauptdarstellerin? Also der Ricky Gold sagt, daß sie die frustrierte Ehefrau sehr überzeugend rüberbringt, aber als Domina ein absoluter Absturz ist. Steht da, in einem sensationellen Lederoutfit und wedelt nur unmotiviert und laut kreischend mit der Peitsche ...«
»Ich meine die Nora, Trainer«, sage ich, als ich die Mais-Chips endlich mit einem Schluck Bier runtergespült hab. »Über den Film weiß ich nix. Hör ich zum ersten Mal. Hatte die Nora eigentlich während eurer Schulzeit auch schon diese Schlafstörungen oder wie immer man das nennt, wenn jemand einen Tag und die ganze Nacht auf den Beinen ist, seinen Verpflichtungen und Terminen nachkommt und um halb sechs in der Früh dann bei dir reinschneit, mit einer Power und einem Strahlen, daß dir richtig schwindlig wird vor so viel Gott sei Dank positiver Energie?«
»Woher soll ich das wissen?« sagt der Trainer. »Das kann dir eventuell der Andi beantworten, ihr Exmann. Ich leider nicht, weil mit mir hat sie nur über die Unterschiede zwischen amerikanischer und europäischer Literatur geredet. Und das auch nur in der langen Zehn-Uhr-Pause oder wenn ich sie nach der Schule abgepaßt und zur Straßenbahnhaltestelle begleitet hab. Da fällt mir ein: Einmal hat sie mir ein Referat über den Einfluß der modernen amerikanischen Lyrik auf die Popmusik zu lesen gegeben, das sie in nur einer Nacht geschrieben hatte. Walt Whitman, Ferlinghetti, O’Hara. Sehr beeindruckend, echt.«
»Sag ich ja«, pflichte ich dem Trainer bei, obwohl ich nicht die Gymnasiastin Nora meine. »Und wieso sagst du immer Nora, wo sie doch Karin heißt?«
Der Trainer fährt hoch und hustet, als wären ihm seine Nachos in die falsche Kehle gerutscht.
»Häh?« macht er.
»Karin Richter. Sie heißt Karin Richter. Und das weißt du ja wohl am besten. Nora ist ihr Künstlername. Madame Nora. Mistress Nora. Das Referat hat dir damals aber die Karin aus der 6B zu lesen gegeben. Was soll das ganze Theater, Trainer?«
Der Trainer raucht sich seine nächste Smart an.
»Sie hat mich darum gebeten.«
»Worum?«
Der Trainer seufzt, hüstelt und rückt seine Brille zurecht, ehe er zu einer klaren Aussage fähig ist.
»Also. Sie hat zu mir gesagt, daß ich die Karin Richter endlich vergessen soll und daß sie seit ihrer Scheidung vor zehn Jahren mit ihrem alten Leben abgeschlossen hat und sich jetzt jeden Tag spontan und frei entscheiden kann, ob sie heute lieber die alte Karin oder die neue Nora sein mag. Und ich soll nicht dauernd an das Schulmädchen denken, das sie einmal war, sondern sie als die Frau sehen, die sie heute ist.«
»Und dann warst du mit ihr im Bett?«
»Nicht direkt«, sagt der Trainer.
»Aber du hast ihr auch nicht die ganze Nacht deine DVD-Sammlung vorgespielt ...«
»Richtig.«
»Also is da was gewesen?«
»In gewisser Weise.«
»Und? Hat‘s weh getan?«
»Arschloch«, sagt der Trainer.
18
ZAHLEN & FAKTEN.
Dem Doc geht’s sichtlich besser.
Als der Trainer und ich aus der cantina in sein Koala-Heim zurückkehren, erwartet uns der marode Computer-Alchimist sogar mit dem Anflug eines Lächelns.
Ein Hauch von Farbe ist in sein Gesicht zurückgekehrt, und in seinem majestätischen schwarzen Morgenmantel steht er da, zwischen seiner kriminalistischen Fachbibliothek, die bis an die Decke reicht und seiner blutigen Video/DVD-Kollektion, wie der uneingeschränkte Herrscher über das Schattenreich zwischen Genie
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