Kurz vor Mitternacht
weiß gar nicht, wie man sich unter solchen Umständen benehmen soll. Jedenfalls kann niemand abstreiten, dass Audrey ihrem Mann eine gute Frau war, wenn sie auch seine Sportbegeisterung nicht teilte. Sie war nie sehr kräftig. In meiner Jugend gab es so etwas nicht. Natürlich hatten die Männer da ihre kleinen Liebesgeschichten, aber sie durften nicht einfach mit der Ehe Schluss machen. Na, dieser Kay ist es ja gleich, was ich von ihr halte. Sie hat nur ihr Vergnügen im Kopf. Nevile mag sie also mitbringen, und ich bin sogar bereit, auch ihre Freunde zu empfangen – obwohl ich mir aus dem höchst theatralisch aussehenden jungen Mann, der immer um sie herum ist, nichts mache – wie heißt er doch noch gleich?»
«Meinst du Ted Latimer?»
«Ja, den meine ich. Ein Freund aus ihrer Riviera-Zeit. Ich möchte zu gern wissen, wie der Bursche es fertigbringt, so zu leben, wie er lebt.»
«Vielleicht durch seinen Verstand.»
«Dann wäre es noch zu verzeihen. Ich glaube aber eher, dass er von seinem Aussehen lebt. Kein passender Freund für Neviles Frau! Mir missfiel es sehr, wie er im vorigen Sommer herkam und sich im Hotel Easterhead einnistete, während das junge Paar hier war.»
Mary blickte zum offenen Fenster hinaus. Lady Tressilians Haus stand auf der steilen Klippe, die den Fluss Tern überragte. Auf der andern Seite des Flusses lag das neu erschlossene Feriengebiet Easterhead-Bucht, das sich aus einem großen Badestrand, mehreren modernen Bungalows und einem Hotel, das sich auf der ins Meer ragenden Landzunge erhob, zusammensetzte. Das Dorf Saltcreek, zu dem Easterhead-Bucht gehörte, war ein malerisches Fischerdorf, das sich an einem Hügelhang erstreckte. Die Dorfbewohner waren altmodisch, konservativ und verachteten Easterhead-Bucht und die Sommergäste.
Das Hotel lag dem «Möwennest» fast genau gegenüber, und Mary brauchte nur über den schmalen Wasserstreifen zu blicken, um es in seiner ganzen blanken Neuheit wahrzunehmen.
«Ich bin froh», sagte Lady Tressilian, indem sie die Augen schloss, «dass Matthew dieses vulgäre Gebäude nie gesehen hat. Zu seinen Lebzeiten war die Küstenlinie noch völlig unberührt.»
Sir Matthew und Lady Tressilian hatten vor dreißig Jahren das «Möwennest» bezogen. Vor neun Jahren war Sir Matthew, der das Segeln über alles liebte, mit seinem Boot gekentert und fast vor den Augen seiner Frau ertrunken.
Alle Welt hatte erwartet, dass Lady Tressilian das Haus verkaufen und Saltcreek verlassen würde, aber sie war geblieben. Sie lebte weiterhin im «Möwennest», und ihre einzige sichtbare Reaktion bestand darin, dass sie alle Boote abschaffte und das Bootshaus abreißen ließ. Den Gästen des «Möwennests» stand kein Boot zur Verfügung. Sie mussten zur Anlegestelle der Fähre gehen und sich dort eins mieten.
Mit leichtem Zögern fragte Mary:
«Soll ich Nevile also schreiben, dass uns sein Vorschlag nicht passt?»
«Ich denke gar nicht daran, auf Audreys Besuch zu verzichten», entgegnete Lady Tressilian. «Sie ist immer im September zu uns gekommen, und ich mag sie nicht bitten, ihre Pläne zu ändern.»
Mary blickte auf den Brief in ihrer Hand und sagte:
«Du hast doch gelesen, dass Audrey nichts dagegen hat… dass sie durchaus bereit ist, mit Kay zusammenzutreffen?»
«Ja, das schreibt Nevile. Aber ich glaube es einfach nicht. Wie alle Männer nimmt Nevile als selbstverständlich an, was ihm in den Kram passt!»
«Er sagt aber, dass er mit ihr darüber gesprochen hat.»
«Wie Heinrich der Achte.»
Mary sah die alte Dame erstaunt an.
«Das Gewissen, verstehst du», erklärte Lady Tressilian. «Heinrich der Achte versuchte auch immer, Katharina dazu zu bringen, dass sie die Scheidung richtig fand. Nevile weiß, dass er sich schlecht benommen hat – er wünscht deshalb, beruhigt zu werden. Darum hat er Audrey so lange zugesetzt, bis sie sagte, alles sei gut und schön, sie werde kommen und mit Kay zusammentreffen und gar keine Bedenken haben.»
«Ich weiß nicht recht…» Mary hielt inne, dann fuhr sie fort: «Dieser Brief… er sieht Nevile so gar nicht ähnlich. Glaubst du nicht, dass Audrey aus irgendeinem Grund dieses Zusammentreffen wünscht?»
«Warum sollte sie?», gab Lady Tressilian scharf zurück. «Nachdem Nevile sie verlassen hatte, ging sie zu ihrer Tante, Mrs Royde, ins Pfarrhaus, und da erlitt sie einen vollständigen Zusammenbruch. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Offensichtlich ist ihr die Sache sehr nahegegangen. Sie
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