Kurz vor Mitternacht
Thomas. Das Ganze war ein höchst tragischer Irrtum.»
Thomas stopfte wieder einmal seine Pfeife.
«Das hätte er sich früher überlegen sollen», sagte er mit rauer Stimme.
«Ja, das sagt man so leicht. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass das Ganze tragisch ist. Eigentlich tut mir auch Nevile leid.»
Thomas setzte zu einer längeren Rede an: «Menschen wie Nevile glauben, dass immer alles nach ihrem Kopf geht und dass sie alles haben können, was sie sich wünschen. Jetzt macht er einmal die gegenteilige Erfahrung. Audrey kann er nicht haben. Sie ist unerreichbar für ihn. Damit muss er sich abfinden.»
«Ich glaube, dass du Recht hast. Aber es klingt so hart. Audrey liebte Nevile so sehr, als sie ihn heiratete… sie kamen so gut miteinander aus.»
«Nun, jetzt liebt sie ihn jedenfalls nicht mehr.»
«Das frage ich mich…», murmelte Mary unhörbar.
Thomas fuhr fort: «Und ich will dir etwas sagen. Nevile sollte auf Kay aufpassen. Das ist eine gefährliche Frau, eine wirklich gefährliche Frau. Die schreckt vor nichts zurück, wenn es ihr um etwas geht.»
«Ach, du meine Güte», seufzte Mary, doch dann sagte sie wieder hoffnungsvoll: «Na, es sind ja nur noch zwei Tage.»
Die letzten Tage waren nicht sehr angenehm gewesen. Lady Tressilians Gesundheitszustand ließ infolge des erlittenen Schocks zu wünschen übrig. Der alte Treves war in London beerdigt worden, wofür Mary dankbar war, weil sie auf diese Weise ihre Gedanken rascher als erwartet von dem traurigen Vorfall abwenden konnte. Mit den Angestellten hatte es Schwierigkeiten gegeben, und Mary war an diesem Vormittag müde und mutlos.
«Vielleicht ist es das Wetter», sagte sie laut aus ihren Überlegungen heraus. «Das Wetter ist unnatürlich.»
Tatsächlich war es ungewöhnlich heiß für September.
Nevile, der aus dem Haus geschlendert kam, hatte die letzten Worte aufgeschnappt.
«Ja, ein merkwürdiges Wetter», sagte er, den Blick zum Himmel hebend. «Es macht einen ganz schlapp. Kein Lüftchen regt sich. Aber ich glaube, dass es bald regnen wird.»
Thomas hatte sich diskret entfernt und verschwand jetzt um die Ecke des Hauses.
«Der schweigsame Thomas verzieht sich», bemerkte Nevile. «Niemand könnte behaupten, dass er meine Gesellschaft schätzt.»
«Er ist ein lieber Mensch», sagte Mary.
«Bedaure, da bin ich andrer Meinung. Ein engstirniger Mensch mit Vorurteilen.»
«Er hatte sich, glaube ich, immer Hoffnungen auf Audrey gemacht. Und dann hast du sie ihm weggenommen.»
«Er hätte sieben Jahre gebraucht, um sich zu einem Heiratsantrag aufzuraffen. Sollte die Ärmste warten, bis er sich endlich dazu entschloss?»
«Vielleicht kommt jetzt alles in Ordnung», erwiderte Mary leichthin.
Nevile betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen.
«Treue Liebe, die ihren Lohn findet? Audrey sollte diesen Fisch heiraten? Nein, das glaube ich nicht.»
«Und ich glaube, dass sie ihn wirklich gern hat.»
«Was für Kupplerinnen ihr Frauen doch seid! Willst du Audrey nicht ihre Freiheit genießen lassen?»
«Wenn sie sie genießt, gewiss.»
Nevile fragte rasch: «Du meinst, sie ist nicht glücklich?»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Ich auch nicht», antwortete er langsam. «Man weiß nie, was Audrey fühlt.»
Nachdenklich schwieg er, dann setzte er hinzu: «Aber Audrey ist durch und durch Klasse.» Und dann, mehr zu sich selbst als zu Mary: «Mein Gott, was für ein Narr ich war!»
Ein bisschen bekümmert ging Mary ins Haus. Zum dritten Mal sagte sie sich die tröstlichen Worte: ‹Nur noch zwei Tage.›
Nevile wanderte rastlos durch den Garten.
Ganz am Ende des Gartens fand er Audrey, die auf dem niedrigen Mäuerchen saß und aufs Wasser blickte. Es herrschte Flut, und der Fluss ging hoch.
Sie sprang sogleich hinunter und trat auf ihn zu.
«Ich wollte gerade ins Haus zurück. Es ist bald Zeit zum Tee.»
Sie sprach schnell und nervös, ohne ihn anzusehen.
Wortlos ging er neben ihr her. Erst als sie die Terrasse erreichten, fragte er: «Kann ich mit dir sprechen, Audrey?»
«Ich glaube, besser nicht.»
«Du weißt also, was ich sagen möchte.»
Sie schwieg.
«Sag, Audrey, können wir nicht wieder von vorn anfangen? Alles vergessen, was geschehen ist?»
«Auch Kay?»
«Kay wird vernünftig sein.»
«Wie meinst du das?»
«Ganz einfach. Ich werde ihr die Wahrheit sagen. Mich ihrer Großmut ausliefern. Werde ihr sagen, was wahr ist… dass du die einzige Frau bist, die ich liebe.»
«Du liebtest Kay, als du sie
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