Kurz vor Mitternacht
Er versuchte, seine damalige Stimmung nachzuempfinden – die Verzweiflung, die ohnmächtige Wut, die Müdigkeit, die Sehnsucht nach einem Ende –, aber es gelang ihm nicht. Er ärgerte sich nur über die erlittene Demütigung, weil der Baum ihn aufgehalten und weil man ihn wie ein ungezogenes Kind ins Krankenhaus gebracht hatte.
Er dachte an Mona, die so hübsch gewesen war und so wenig Vernunft gehabt hatte. Das unbestimmte Bild einer Frau stieg vor ihm auf, einer schönen Frau, die mit flatterndem Gewand durch den Abend schwebte… ein Idol…
Und dann geschah das Unglaubliche, geschah mit dramatischer Plötzlichkeit! Aus der Dunkelheit kam eine Gestalt geschwebt. In der einen Sekunde war sie nicht da, in der nächsten erschien sie wieder, eine weiße Gestalt, die lief… auf den Klippenrand lief sie zu. Eine Gestalt, schön und verzweifelt, von Furien der Vernichtung getrieben! Er kannte diese Verzweiflung… er wusste, was das zu bedeuten hatte…
Er löste sich aus dem Schatten und packte sie gerade in der Sekunde, als sie sich hinunterstürzen wollte…
Heftig sagte er: «Nein, das dürfen Sie nicht!»
Es war, als hielte er einen Vogel. Sie wehrte sich, wehrte sich stumm, und dann war sie unvermittelt, wie ein kleines Tier, ganz still.
«Stürzen Sie sich nicht hinunter!», sagte er drängend. «Das ist sinnlos. Auch wenn Sie sehr unglücklich sind…» .
Sie ließ ein gespenstisches kleines Lachen hören.
«Sie sind nicht unglücklich? Was ist es denn?»
Leise, atemlos stieß sie hervor: «Ich habe Angst.»
«Angst?»
Er war so erstaunt, dass er sie losließ und einen Schritt zurücktrat, um sie besser betrachten zu können.
Da wurde ihm klar, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Es war Furcht, die sie getrieben hatte. Es war Furcht, die sich auf ihrem blassen Gesicht und in den großen Augen widerspiegelte.
«Wovor haben Sie denn Angst?», fragte er ungläubig.
Sie antwortete so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte.
«Ich habe Angst, gehängt zu werden…»
Ja, das sagte sie. MacWhirter starrte sie an; dann blickte er zum Klippenrand.
«Deshalb also…»
«Ja. Ein schneller Tod anstatt…» Schaudernd schloss sie die Augen.
In Gedanken setzte er alle Teilchen logisch zusammen. Schließlich sagte er:
«Lady Tressilian? Die alte Dame, die ermordet wurde… Dann sind Sie Mrs Strange – die erste Mrs Strange.»
Sie nickte.
MacWhirter versuchte, sich alles Gehörte und Gelesene ins Gedächtnis zu rufen.
«Der Verdacht gegen Ihren Mann wurde fallen gelassen, nicht wahr? Sehr viele Beweise für seine Schuld lagen vor, und dann stellte sich heraus, dass jemand den Verdacht auf ihn gelenkt hat…»
Er brach ab und betrachtete sie. Sie zitterte nicht mehr, sondern stand nur da und sah aus wie ein folgsames Kind. Das rührte ihn zutiefst.
Er fuhr fort: «Ich verstehe… Ja, nun verstehe ich… Er verließ Sie wegen einer andern, nicht wahr? Und Sie liebten ihn… Darum… ja, ich verstehe. Meine Frau hat mich um eines andern Mannes willen verlassen.»
Sie warf die Arme in die Höhe. Wild hoffnungslos stammelte sie: «So… so ist es… war es nicht. Ganz… ganz und gar nicht.»
Er unterbrach sie in ernstem, befehlendem Ton: «Gehen Sie nachhause. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Hören Sie? Ich will dafür sorgen, dass Sie nicht gehängt werden!»
36
Mary lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich ganz zerschlagen. Gestern hatte die gerichtliche Untersuchung stattgefunden, und nach erfolgter Bestandsaufnahme war die eigentliche Verhandlung um eine Woche verschoben worden.
Lady Tressilians Beerdigung sollte morgen stattfinden. Audrey und Kay waren mit dem Auto nach Saltington gefahren, um sich Trauerkleider zu besorgen. Ted Latimer begleitete sie. Nevile und Thomas machten einen Spaziergang, sodass sich Mary, von den Dienstboten abgesehen, allein im Haus befand.
Inspektor Battle und Sergeant Leach hatten sich heute noch nicht gezeigt, und auch dies bedeutete eine Erleichterung. Es kam Mary so vor, als habe sich mit ihnen ein Schatten verflüchtigt. Sie waren höflich gewesen, recht angenehm sogar, aber ihre unaufhörlichen Fragen konnten einem empfindsamen Menschen schon auf die Nerven gehen.
Jetzt herrschte Ruhe, und Mary entspannte sich. Sie wollte alles, alles vergessen – nur liegen und ausruhen.
«Entschuldigen Sie bitte, Miss Aldin…»
Hurstall stand in der Tür und blickte schuldbewusst drein.
«Ja, Hurstall?»
«Ein Herr
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