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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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skandinavische Modell favorisieren.
     Das heißt, man muss sich sowohl vom Kapitalismus als auch vom Sozialismus die besten Seiten herauspicken.« Dubov reibt sich
     die Hände. »Nur die allerbesten Seiten – meinen Sie nicht auch, Michail Gordonowitsch?«
    (Mikes Vater hieß Gordon. Falls es dafür ein russisches Äquivalent geben sollte, kennt es jedenfalls keiner von uns.)
    |310| »Ja, selbstverständlich kann man das in einem industriell hochentwickelten Land wie Schweden machen, wo es eine starke Gewerkschaftsbewegung
     gibt.« (Jetzt hat Mike sein Heimspiel.) »Aber ob es in einem Land wie der Ukraine funktionieren würde   …?«
    Wieder bittet er mich zu übersetzen. Ich wünschte, ich hätte mich gar nicht erst darauf eingelassen. Wir haben beide bereits
     den Vormittag freigenommen und müssen jetzt unbedingt nach Hause. Wenn wir so weitermachen, wird als Nächstes der Pflaumenwein
     wieder aufgetischt.
    »Das ist ja das Dilemma«, seufzt Dubov slawisch gefühlvoll und lässt seine schwarzen Knopfaugen über seine Zuhörerschaft wandern.
     »Die Ukraine muss ihren eigenen Weg finden. Im Moment akzeptieren wir vollkommen unhinterfragt alles, was aus dem Westen kommt.
     Manches ist natürlich gut, aber anderes ist einfach Unsinn.« (Obwohl ich ja eigentlich aufbrechen möchte, übersetze ich weiter.
     Mike nickt vor sich hin. Vera stellt sich ans Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Vater schält unbeirrt Äpfel.) »Sobald
     wir in der Lage sind, die entsetzlichen Erinnerungen an die Gulags hinter uns zu lassen, können wir darangehen, das, was früher
     in der sozialistischen Gesellschaft gut war, für uns wiederzuentdecken. Dann werden auch diese Ratgeber als das erkannt werden,
     was sie wirklich sind, nämlich reine Banditen, die unser Volksvermögen plündern und amerikanisch geleitete Unternehmen bei
     uns ansiedeln, in denen unsere Leute für erbärmliche Löhne beschäftigt werden. Russen, Deutsche, Amerikaner, alle sehen in
     der Ukraine doch nur das eine: eine Quelle für billige Arbeitskräfte.«
    Je länger er redet, desto mehr kommt er in Fahrt. Er gestikuliert heftig mit seinen großen Händen und spricht schneller und
     immer schneller. Ich habe Mühe, beim Übersetzen Schritt zu halten.
    |311| »Früher einmal waren wir ein Volk von Bauern und Ingenieuren. Wir waren nicht reich, aber wir hatten genug.« (Vater in seiner
     Ecke nickt enthusiastisch und schwenkt sein Schälmesser durch die Luft.) »Jetzt saugen Schieber und Erpresser unsere Wirtschaft
     aus, und unsere gut ausgebildeten jungen Leute strömen in den Westen, um dort reich zu werden. Unsere schönen jungen Frauen
     sind zum nationalen Exportgut geworden und werden als Prostituierte verkauft, damit sie den Appetit der westlichen Männerwelt
     stillen. Es ist eine Tragödie.«
    Er bricht ab und schaut von einem zum anderen, aber niemand sagt etwas.
    »Es ist wirklich eine Tragödie«, sagt Mike endlich.
    »Die Leute lachen über uns. Sie meinen, solche Art von Verderbtheit sei unsere Natur.« Jetzt ist Dubovs Stimme wieder ruhiger
     geworden. »Aber ich möchte behaupten, dass es nur charakteristisch ist für die Art von Ökonomie, die man uns aufgezwungen
     hat.«
    Vera, die noch immer am Fenster steht, scheint im Laufe dieser Ausführungen zunehmend ungeduldig zu werden. »Dann sollte Valentina
     sich dort ja eigentlich ganz wohl fühlen«, stellt sie fest. Der Blick, den ich ihr zuwerfe, sagt ihr hoffentlich, dass sie
     die Klappe halten soll.
    »Mich würde interessieren, Dubov«, sage ich – auch wenn ich weiß, dass es etwas gehässig klingt   –, »wie Sie jemanden, der so   … so sensibel ist wie Valentina, dazu bringen wollen, in so ein Land zurückzukehren.«
    Er zuckt die Achseln und hält die Hände, Handflächen nach außen, in die Höhe. Aber um seinen Mund spielt ein kleines Lächeln,
     als er sagt: »Die eine oder andere Möglichkeit gibt es durchaus.«
     
    »Ein faszinierender Mann«, sagt Mike.
    »Mhm.«
    |312| »Wirklich beeindruckend, diese Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge – und das als Ingenieur.«
    »Mhm.«
    Wir sind erst auf halber Strecke, und um drei Uhr habe ich eine Vorlesung. Ich sollte mir Gedanken machen über »Frauen und
     Globalisierung«, aber auch ich hänge dem nach, was Dubov gesagt hat. Und ich denke an Mutter und Vera im Lager mit dem Stacheldraht,
     an Valentina, die Billiglohnschichten im Pflegeheim schiebt und hinter dem Tresen im Hotel Imperial arbeitet und sich

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