Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
voll, die Spiegelkommode, der Stuhl, das zweite Bett und natürlich
auch der ganze Fußboden. Und dazwischen überall Watte – Watte-Pads mit rotem Lippenstift, schwarzem Augenmakeup, rötlich-brauner Schminke, rosa Nagellack – auf dem Bett, auf dem
Fußboden, im Teppich festgetreten, zwischen Kleidungsstücken und Essensresten.
Ein seltsamer Geruch, eine Mischung aus süßlichem Parfum, chemischen Düften und noch etwas anderem – etwas Organisch-Bakteriellem –, hängt im Raum.
Ich frage mich, wo ich hier anfangen soll – und dabei wird mir klar, dass ich eigentlich gar nicht genau weiß, wonach ich
suche. Ich weiß nur, dass ich nicht viel mehr als eine Stunde Zeit habe, um es zu finden, weil dann Valentina aus der Arbeit
und Stanislav von seinem Samstagsjob nach Hause kommen.
|152| Ich beginne mit dem Bett. Fotos liegen da und einige Papiere, die aussehen wie offizielle Schreiben – ein Antrag auf Ausstellung
eines vorläufigen Führerscheins, eine Gehaltsabrechnung von ihrem Pflegeheim (wobei mir auffällt, dass ihr Nachname beide
Male anders geschrieben ist) und ein Bewerbungsbogen für einen Job bei McDonald’s. Die Fotos sind interessant. Sie zeigen
Valentina mit aufwendig gestylter Frisur in einem glamourösen schulterfreien Abendkleid neben einem dunkelhaarigen, stämmigen
Mann mittleren Alters, der einige Zentimeter kleiner ist als sie. Auf manchen Fotos hat er den Arm um ihre Schulter gelegt,
auf manchen halten sie sich an den Händen, auf anderen lächeln beide in die Kamera. Wer ist dieser Mann? Auch bei noch so
eingehender Betrachtung kann ich keine Ähnlichkeit mit Bob Turner erkennen. Ich nehme eines der Fotos an mich und lasse es
in meiner Tasche verschwinden.
Unterm Bett wartet in einer Tesco-Tragetasche die nächste Entdeckung: ein Packen Gedichte und Briefe in der krakeligen Handschrift
meines Vaters. Hier und da sind Blätter in englischer Übersetzung dazwischengeschoben.
Mein Schatz … Liebste … göttliche Venus … Brüste wie reife Pfirsiche
(du liebe Zeit!)
… Haare wie die goldenen Weizenfelder der Ukraine … meine ganze Liebe und Hingabe … dein bis zum Tod und in Ewigkeit
. Die Handschrift der Übersetzungen sieht mit ihren großen runden Buchstaben und den kleinen Kringeln anstelle der i-Punkte
wie die Schrift eines Kindes aus. Ob Stanislav das geschrieben hat? Warum nur? Für wen sind diese Übersetzungen bestimmt?
In einem der Briefe springen mir Zahlen ins Auge. Neugierig ziehe ich ihn heraus. Vater hat seine Einkommensverhältnisse aufgelistet,
die monatlichen Pensionsbeträge, seine sämtlichen Sparkonten. Zahlen kreuz und quer. »Es ist nicht sehr viel, mein Liebling«,
hat er unten auf die Seite geschrieben, »aber man kann damit auskommen und alles |153| wird einmal dir gehören.« Auch dies, Wort für Wort, übersetzt und ordentlich von Kinderhand festgehalten.
Ich lese den Brief noch einmal, mit wachsendem Groll. Meine Schwester hat wirklich Recht – er ist ein Idiot. Kann man es Valentina
denn übel nehmen, dass sie ihm sein Geld abnimmt, wenn er es ihr doch so offensichtlich aufdrängt?
Als Nächstes mache ich mich an die Schubladen, in denen das gleiche Chaos herrscht wie im ganzen Zimmer. Ich fingere mich
durch ein Gewühl von Unter- und Oberwäsche, klebrigen Bonbonpapieren, Lotionen und billigen Parfums. In einer Schublade stoße
ich auf ein Zettelchen, auf dem steht: »Bis Samstag. In Liebe, Eric.« Daneben, vergraben unter einem Slip, liegt ein angebissenes
Sandwich, zwischen dessen vertrockneten grauen Krusten eine Schinkenscheibe in mittlerweile angedunkeltem Rosa obszön hervorlugt.
Im selben Moment höre ich draußen ein Auto vorfahren. Ich schlüpfe schnell aus dem Raum und nach nebenan zu Stanislav hinein.
Dies war einmal mein Zimmer, und weil sich im Schrank immer noch Sachen von mir befinden, habe ich eine Entschuldigung für
meine Anwesenheit. Stanislav ist ordentlicher als Valentina. Ich sehe auf den ersten Blick, dass er ein Fan von Kylie Minogue
und Boyzone ist. Das »Musikgenie« hat ein ganzes Zimmer voller Boyzone-Kassetten! Auf dem Tisch vor dem Fenster liegen Schulbücher
und ein Schreibblock. Stanislav schreibt an einem ukrainischen Brief. »Lieber Papa …«
Von unten höre ich Stimmen – nicht die von Mike und Vater, sondern von Valentina und Stanislav. Die beiden sind in der Küche.
Leise ziehe ich Stanislavs Tür hinter mir zu und schleiche mich auf
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