Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe
Muster zerflossen.
Die ganze Umgebung lief zusammen, um zu enträtseln, was die Farbflecken bedeuteten, und man las aus ihnen Glück und Verderben der nächsten Jahre heraus. Das größte Wort führten klarerweise die Erwachsenen aus Mutters Familie. Mein Großvater und Oma. Neben ihnen drückten sich die Kinder aneinander. Mama mit Tante Nara und die selige Tante Magi mit Tante Ojuna im Arm, die damals noch keine zwei Jahre alt war. Jemand sah in Urgroßmutters totem Antlitz zornige Wolken und prophezeite der Region schlimme Ereignisse. Andere erinnerten die hellen Flecken an fette Herden scheckiger Kühe, und sie tippten auf einen milden Winter und einen langen sonnenreichen Sommer. Es gab auch genügend Leute, die in den Flecken ein riesiges Jurtenlager erkannten, wie das hier in der Hauptstadt, und sie sagten voraus, die Fleischpreise beim Viehaufkauf würden steigen, irgendein einflussreicher Funktionär aus der Stadt Mutters Somon besuchen oder das Somonzentrum sich unverhofft ausweiten und unser Landkreis ungewöhnlich wichtig werden.
Für Mama ziemte es sich nicht, zu sprechen, und so stand sie nur still zwischen Omas Knien. Sie erzählte, Urgroßmutters Gesicht habe ständig die Farbe gewechselt, sich vergrößert und wieder verkleinert.
Bis Mama es plötzlich nicht mehr aushielt und aus heiterem Himmel schrie, eine Mücke, seht, eine riesige Mücke!
Die anderen verstummten, und die formlosen Flecken fügten sich plötzlich für alle zu Flügeln, zwischen denen man den dunklen Klotz eines Mückenkörpers erahnen konnte. Mama hatte als Erste gesehen, was die anderen erst dann wahrnahmen, nachdem sie es gesagt hatte.
Im nächsten Sommer wurde Mamas Region von einer Katastrophe heimgesucht. Die Menschen bekamen Schwellungen, und abends das Ger zu verlassen war unmöglich. Einige Kinder starben an der Mückenkrankheit und die restlichen sahen nichts mehr, so verschwollen waren sie, und die Erwachsenen gleichfalls. So etwas hatte Mamas Gegend noch nicht erlebt. Die Tiere schleuderten den ganzen Tag die Schwänze hin und her, die Kühe stießen einander mit den Hörnern.
Einen ganzen Monat lang plagten Mückenschwärme Mamas Aimak. Viele Menschen starben damals am Fieber, bei anderen nisteten sich in den aufgekratzten Wunden kleine stinkende Käfer ein. Mama hatte Recht gehabt.
Großvater, Urgroßmutters Sohn und Mutters Vater, gab zu bedenken, das käme nicht von ungefähr. Allen war klar, dass Urgroßmutter von sich hören ließ. Durch Mamas Vermittlung und durch niemand anderen. Mama verfügte sonst zwar nicht über besondere Fähigkeiten, hätte jemand sie damals aber ernst genommen, hätte es für die Gegend nicht so schlecht ausgehen müssen.
Schließlich fiel eine Entscheidung. Mamas erstes Mädchen würde Urgroßmutters Namen erhalten. Sicherheitshalber. Und wegen des großen und ewigen Ruhms von Dolgorma, der tollsten Frau des Baschkgansker Somonkreises.
Diesen Satz sagte Mama immer vollkommen gleich, und wenn sie manchmal irgendein Wort ausließ, schrie ich auf. Um einschlafen zu können, musste ich diesen Baschkgansker Somonkreis zu hören bekommen. Ich hatte keine Ahnung, was der Baschkgansker Somonkreis war, doch klang es überwältigend. Ich ahnte nicht, dass von der Gegend die Rede war, in die ich jeden Sommer zwei Monate lang zu Großvater und Oma fahren würde.
Diese Ferien konnte ich nicht leiden, die Geschichte jedoch wollte ich von allen am häufigsten hören.
Ich hatte dann das Gefühl, auch irgendwie wichtig zu sein. Ich fühlte es. Obwohl Mama jeden Abend wegging und ich, wenn ich nachts aufwachte, mit meinen kalten Füßen nicht wie andere Kinder zu ihrer Mutter unter ihre Decke schlüpfen konnte, und während ich sie mit den Händen rieb, merkwürdige Geräusche in meinem Kopf dröhnten und schwarzer Schlamm durch die Abgründe in den Wänden drang. Beruhigen konnte mich nur das ruhige Brummen eines Autos, das da und dort an unserem Plattenbau vorüberfuhr. Dort draußen war meine vertraute Stadt voller freundschaftlicher Töne und friedlicher Lichter, und außerdem trieb sich dort irgendwo auch Mama herum. Die Wohnung war erfüllt von gespenstischem Krachen, deshalb stellte ich mir, wenn ich - jetzt schon ohne Mama und voller Angst - wieder einschlief, immer vor, wie ich Berke aus unserem Kindergarten einen schrecklichen Juckreiz verpasste.
Wir wussten alle, dass Berke ständig etwas erfand, über ihre Familie und einen großen Bruder, den sie nicht hatte, und ich träumte
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