Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe
und sie musste es ebenfalls wissen. Aber es war eben so bei uns. Und daher musste sie mir vor dem Fortgehen wenigstens etwas erzählen.
An viele Dinge, von denen sie überzeugt ist, glaube ich nicht. Zwar thront bei uns daheim wie bei den meisten anderen auf dem Ziertischchen neben dem Fernseher ein Burchan, doch ich weiß, dass diese Dinge auf mein Leben keinen wesentlichen Einfluss haben. Hexerei und Zauberei gibt’s einfach nicht. Die Schamanen sind tot. Nur bei Urgroßmutter ist es anders. Darin bestand ja Mutters allabendliche Gutenachtgeschichte zum Abschied. Doch ist Urgroßmutter darin nicht die Hauptsache.
Die Hauptsache bin ich, ist mein Name. Wie könnte ich einschlafen, würde ich mir das nicht in einem fort wiederholen?
Urgroßmutter war in der ganzen Gegend bekannt. Sie konnte durch Berühren Todkranke heilen, und ein einziger Blick von ihr reichte, dass Verwundete zu bluten aufhörten. Ihre Ratschläge wurden mit den feinsten Kaschmirstoffen aufgewogen, und wer sie zur Hilfe holte, hieß sie schon vor der Türschwelle willkommen und bezeugte ihr Ehre, so wie alte Leute sich vor gemalten Tempelfiguren verbeugen. Wenn sich Urgroßmutter näherte, verfärbte sich der Himmel angeblich purpurrot, ihrer Ankunft gingen rollende Donner voraus, und Blitze, goldenen zackigen Messern gleich, zerschnitten den Himmel und schnellten zur Erde hinab. Traf ein Blitz das Ger, bedeutete das, dass nicht einmal mehr Urgroßmutter helfen konnte. Das kam allerdings nicht so häufig vor, und daher achteten alle Urgroßmutter.
Urgroßmutter kannte sich bei allen körperlichen und seelischen Krankheiten aus. Von randvollen Eimern und schweren Töpfen verkrümmte Rücken befreite sie gleichermaßen von Schmerzen wie unglücklich Verliebte. Sie heilte schwere Krankheiten Erwachsener und auch zerschlagene Knie von Kindern, die vom Pferd gefallen waren.
Wenn Urgroßmutter stand, sprach sie auch mit den größten Pferden von Aug zu Aug. So groß war sie.
Sobald Mama zu dieser Stelle kam, stellte ich stets eine Frage. Ich konnte nie begreifen, warum sie von Urgroßmutter nie die Tiersprache gelernt hatte. Mama sagte immer, die Tiersprache sei sehr schwer und Urgroßmutter wäre auch gestorben, ehe die Rede auf diese Art Unterricht kam.
Es war keine Zeit dazu. Kranke gab es immer und wird es immer geben. Wie ein Reiskorn in einer Essschale, wie einen
Floh in einem schäbigen Wolfspelz, pflegte Mama von Sachen zu sagen, die es in großen Mengen gab. Wie blaue Flecken auf den Körpern von Ulan Bators Vagabunden, wie Spucknäpfe an einer einzigen Ecke dieser lausigen Stadt, sagte sie. Ich habe noch nie einen Wolf gesehen. Möglicherweise hat er auch gar keine Flöhe. Aber darauf kommt es nicht an.
Urgroßmutter war ein Mensch, dem nichts verborgen blieb. Flunkerte jemand, merkte sie es. Wenn jemand sie belog, sprossen auf seinem Körper am nächsten Tag rote Flecken, und er kratzte sich die ganze Nacht, und niemand konnte ihn von diesem Jucken befreien.
Als Urgroßmutter noch lebte, waren in der ganzen Umgebung die Lügner an den blutigen Fingern zu erkennen, sie hatten blutige Nagelränder.
Nur Urgroßmutter konnte Abhilfe schaffen. Solche Leute sagten nie wieder ein falsches Wort, wenigstens vor Urgroßmutter nicht.
Auch Mutters Ger zitterte manchmal vor ihr. Mama musste ihr aufs Wort gehorchen, aufpassen, dass ihr niemand die Kräuter abriss, die sie züchtete, und wenn Urgroßmutter etwas befahl, machten es alle zu ihrem eigenen Wohl. Urgroßmutter wusste immer, was sie sagte, und wenn sie sprach, war es, als würden die Metzger Fleisch hacken. Jeder Hieb saß. Was sie sagte, geschah.
Das galt auch für ihren Tod. Als sie alt wurde, beschloss sie fortzugehen. Sie schickte alle Mitglieder der Familie weg, und als sie zurückkehrten, lag sie schon darauf vorbereitet vor dem Ger.
Sie hatte einen silbrig durchwirkten Deel an, den Kopf nach Osten gekehrt, und sang bis zum letzten Atemzug. Als ihr langsam der Atem ausging, wurden die Worte leiser und
leiser, bis sie mit dem Rauschen des Regens verflossen, der gnädig in dichten Schnüren herabrieselte, um Urgroßmutters letzte Stunde in Würde zu hüllen, wie Mama sagte. In das Ger hineingenommen werden wollte sie nicht.
Am Morgen fanden sie ihren kalten Körper im regennassen Deel weit weg in der Steppe. Ihr Gesicht war von einem feierlichen Lächeln überzogen. Die Farben, mit denen sie sich vorher Stirn und Wangen bemalt hatte, waren zu einem sonderbaren verwischten
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