Kurzgayschichten
Offensichtlich schien er noch etwas zu holen.
Irgendjemand hatte in liebevoller Kleinarbeit die Köpfe berühmter Rocksänger unter die Glasplatte des kleinen Wohnzimmertisches geklebt. An den Wänden hingen Bilder von Che und Konsorten.
Kains Eltern mussten ziemlich locker sein, wenn sie zuließen, dass ihr Wohnzimmer so aussah.
Mein Vater würde mich sicher erst mal therapieren lassen, wenn ich auch nur den Gedanken hegen würde unseren Tisch mit diesen „Wilden“ zu bekleben.
Gerade als ich mir Jim Morrisons leicht entrückten Gesichtsausdruck durch die Glasplatte hindurch ansah, kam Kain zurück.
Er hatte zwei Gläser Saft in der Hand und setzte sich dann neben mich.
„Echt tolle Idee mit dem Tisch ...“, versuchte ich ihm heute das zweite Mal zu huldigen.
Er grinste leicht und stellte das für mich gedachte Glas genau auf Mick Jaggers Gesicht. „Das war mein Bruder, der kommt ständig auf so komische Ideen.“
Moment, er hatte einen Bruder?
„Du hast einen Bruder?“, fragte ich scheinheilig.
Er nickte knapp. „Ja, wir wohnen zusammen, bis ich genug Geld hab, um mit Svetlana zusammen zu ziehen.“
Hätte ich nur nicht nachgefragt. Ich versteckte meinen Frust und die nicht zu verheimlichende Aggression gegen das rothaarige Biest hinter dem Orangensaftglas und wünschte in genau diesem Augenblick jemandem qualvolle Schmerzen.
Wie konnte man mit 18 schon zusammenziehen? Was hatte diese dumme Kuh nur mit ihm gemacht, dass er ihr so hörig war?
Ich war sauer. Sauer, weil ich nicht gegen diese rothaarige Schnepfe verlieren wollte und weil ich so dumm war anzunehmen, ich könnte mit einem Hausaufgabennachmittag den tollsten Jungen unserer Stufe umkrempeln.
Ich versteckte weitere Gesichtsentgleisungen hinter dem Heinebuch und versuchte mich auf das Referat zu konzentrieren.
Schließlich war ich hier ja nur um mit einem x-beliebigen Jungen meines Alters einen Deutschvortrag vorzubereiten, was interessierte es mich da, dass genau dieser x-beliebige Typ eine Freundin hatte, mit der er zusammenziehen wollte.
Es konnte mir auch egal sein, warum er nicht mehr bei seinen Eltern wohnte und sich die Wohnung mit seinem sicher älteren Bruder teilte. Im Grunde ging mich das alles überhaupt nichts an.
Wenn er doch nur nicht so verdammt sexy aussehen würde!
Es war ein Unding, dass es uns Schwulen immer so schwer gemacht werden musste. Wieso mussten wir uns ausgerechnet in unerreichbare schöne Heten verlieben um letztendlich weniger schöne, dafür aber schwule Freunde zu bekommen.
Mal ehrlich, das verbreitete Klischee von dem schönen Schwulen stimmte doch nur noch in den seltensten Ausnahmefällen, die dann entweder eher bi oder charakterlich so unerträglich waren, dass es eh nur bei Sex bleiben würde.
Ich beobachtete ihn dabei, wie er den Saft langsam durch seine Kehle laufen ließ. Ab und zu machte er ohne hinzusehen Notizen auf seinem Block und strich sich durch die schwarzen Haare.
Ich schluckte schwer. Wie sollte ich je wieder von ihm loskommen? Das war ja krank!
Seufzend nahm ich einen Schluck und starrte abermals auf Jim.
Er sah kurz auf und folgte meinem Blick. „Der Tisch hat’s dir angetan, was?“
Nicht nur der! Ich nickte knapp.
„Meine Eltern hätten uns dafür umgebracht, wenn wir damals den Wohnzimmertisch ›verschönert‹ hätten ...“
Nun lauschte ich aber doch auf. Er wollte von sich aus private Dinge ausplaudern? Ich würde der Letzte sein, der ihn aufhielt, im Gegenteil.
„Wohnst du nicht mehr zu Hause, weil sie so streng sind?“
Er trank einen Schluck und schien zu überlegen. „Na ja, sie sind etwas konservativ, ja ...“
Ich nickte kurz verstehend. „Ich hätte auch gern einen Bruder, mit dem ich mich wenigstens halbwegs verstehe ...“ Ich versuchte auf der Mitleidschiene zu fahren.
Er sah mich kurz undeutbar an. „Es ist sicher nicht einfach, wenn man ... na ja ...“
„... schwul ist?“ Ich erschrak selber darüber, wie spontan es mir über die Lippen kam.
Er lächelte entschuldigend. „Wissen deine Eltern eigentlich davon?“ Er sah tatsächlich interessiert aus.
„Ja, mein Vater weiß davon ...“
„Und was sagt er dazu?“
„Na ja, er hat nichts dagegen, aber er ist etwas ... übervorsichtig mit mir ...“
Er lächelte leicht und ich schmolz dahin.
Das leise Knacken an der Wohnungstür ließ uns beide auflauschen.
Kain sah erwartungsvoll Richtung Wohnzimmertür und ich folgte seinem Blick. Ich hoffte, der Störenfried hatte auch allen
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