Kurzschluss
offene Fragen, die er den Beteiligten stellen wollte. Der Versuch, Markus Wollek im Albwerk zu erreichen, schlug fehl, da er sich an diesem Donnerstagnachmittag frei genommen hatte, um seinen ehrenamtlichen Turmwächterdienst vorzubereiten. Seine Frau erklärte am Telefon, er sei bereits zum Ödenturm gefahren, dem mittelalterlichen Wahrzeichen Geislingens. Der Turm, der möglicherweise irgendwann im 12. oder 13. Jahrhundert mit den damals üblichen Buckelquadern erbaut worden war, thronte über der Altstadt direkt an der Albkante. Er war zwischen Mai und Oktober jeweils sonn- und feiertags geöffnet. Dazu stellten die Geislinger Albvereinsortsgruppen einen ehrenamtlichen Turmdienst, der nichts weiter zu tun hatte, als auf die Turmstube aufzupassen und den Besuchern Rede und Antwort zu stehen. Linkohr wusste, wie der Turm am besten mit dem Auto zu erreichen war: Über den Geislinger Stadtbezirk Weiler in Richtung Hofstett am Steig, wo auf halber Strecke ein Forstweg abzweigte.
Sprühregen schlug dem Kriminalisten entgegen, als er den Wagen im Wald bei zwei anderen Autos parkte und die restlichen 50 Meter zu Fuß ging. Er hielt kurz inne und sah auf die Stadt hinab, deren Dächer sich regennass spiegelten. Kein schönes Wetter vor der Sommersonnenwende, die am Sonntag anstand, dachte er.
Linkohr wandte sich der schweren, bogenförmig abgerundeten hölzernen Eingangstür zu, die zwei Meter tief ins dicke Mauerwerk zurückversetzt war. Auf einem Schild stand zu lesen, wann Besucher den Turm betreten konnten. Die Tür war nur angelehnt. Er drückte sie auf und ihm schlug kühle Luft entgegen, die nach einem aggressiven Putzmittel roch. Er wartete, bis sich seine Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, das durch die wenigen Fensterschlitze im Mauerwerk auf die massive hölzerne Treppenkonstruktion fiel.
Die offene Tür deutete darauf hin, dass sich jemand in der Turmstube aufhielt. Der junge durchtrainierte Kriminalist stieg die etwa 120 knarrenden Stufen hoch und näherte sich in weniger als einer Minute der Turmstube, aus der zwei Männerstimmen drangen. Er trat bewusst schwer und laut auf, um die Personen beim plötzlichen Eintreten nicht zu erschrecken. Kaum hatte er die letzte Stufe erreicht, wurde er bemerkt: Wollek stand vor ihm. Für einen Moment schien der Mann irritiert zu sein, hatte sich aber schnell gefangen und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Willkommen im Turm, Herr Linkohr«, grinste er, während hinter ihm wie ein Schatten eine wohlbeleibte Gestalt stand, die gut und gern drei Zentner auf die Waage brachte, schätzte Linkohr.
Dieser Mann, der seine ganze Leibesfülle in eine dunkle XXL-Hose und ein ebensolches Hemd gezwängt hatte, strahlte übers ganze Gesicht und lachte schallend. Mit seiner kräftigen Stimme erfüllte er den ganzen Turm. »Oje, ein Kriminalist, jetzt sind wir fällig«, spottete er und schüttelte Linkohr kräftig die Hand. Der wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Peter Leichtle, stadt- und kreisbekannt, vermutlich sogar weit im Lande. Stimmenkönig bei der jüngsten Gemeinderatswahl, was allein schon über seinen Bekanntheitsgrad genügend aussagte. Ein echter Mann des Volkes. Engagierte sich in der Politik genauso wie ehrenamtlich beim Schwäbischen Albverein und war offenbar in dieser Eigenschaft mit Wollek zum Turm gekommen, um mit ihm die Vorbereitungen für den kommenden Sonntag zu treffen. »Wer von uns beiden wird abgeführt?«, fragte er, was Wollek für einen Moment sichtlich verwunderte. Denn derartigen Umgang mit Kriminalisten war er nicht gewohnt. Leichtle schaffte es jedoch mit seiner unnachahmlichen Art, auf alle Bevölkerungskreise einzugehen – mit seiner grundehrlichen Haltung, seinem Witz und seiner Selbstironie. Wenn auf jemanden der Ausspruch ›Ein Mann, ein Wort‹ zutraf, dann auf ihn. So hatte es Linkohr bereits mehrfach gehört und ihn am vorletzten Sonntag auch gewählt, obwohl er nicht gerade ein Anhänger von Leichtles konservativer Partei war.
»Wer macht einen Sekt auf?«, fragte der Schwergewichtige. »Wer unangemeldet auf den Turm kommt, muss einen ausgeben«, stellte er grinsend fest, um gleich anzufügen: »Nur schade, dass wir nichts da haben.«
»Ich will Sie auch nicht lange stören«, wurde Linkohr sachlich.
Er wollte weiterreden, doch Leichtle unterbrach ihn: »Sie stören überhaupt nicht. Sie können gleich mitarbeiten.« Er drückte ihm symbolisch einen Besen in die Hand, mit dem sie gerade die Turmstube gesäubert
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