Kurzschluss
wenig Verkehr. Zwischen Urspring und Amstetten behielt sie Tempo 80 bei, obwohl die lang gezogenen Kurven eine höhere Geschwindigkeit zugelassen hätten. Erst jetzt fielen ihr die Scheinwerfer eines Wagens auf, der ihr dicht folgte. Der Fahrer unternahm keine Anstalten, sie zu überholen. Instinktiv trat sie fester aufs Gaspedal. Doch nach der Beschleunigung ließ sie den Wagen wieder auf Tempo 80 ausrollen.
Sie wusste, dass es in ihrem Zustand töricht wäre, unnötig schnell zu fahren. Ihr Reaktionsvermögen, daran bestand gar kein Zweifel, war nach einem halben Liter Wein deutlich eingeschränkt. Der Gedanke daran machte sie unsicher. Denn wenn sie zu langsam fuhr, konnte dies ebenso den Argwohn einer Polizeistreife erwecken wie zu schnelles Fahren. Dieser Zwiespalt zwischen korrektem und übervorsichtigem Verhalten war es gewiss, der Alkoholsünder dazu verleitete, unbewusst Fehler zu begehen. Insgeheim ärgerte sie sich, ein zweites Glas getrunken zu haben. Wie oft schon hatte sie gelesen, wie eine kurze Promillefahrt Menschen ins Unglück stürzen konnte. Und selbst wenn nichts passierte und sie günstigstenfalls nur in eine Kontrolle geriet, wären die Folgen weitreichend: Monatelang keinen Führerschein, womöglich zum Besuch irgendwelcher Kurse verdonnert oder zur Absolvierung eines medizinisch-psychologischen Tests gezwungen, den der Volksmund Idiotentest nannte. Ganz zu schweigen von Gebühren und Bußen, den Taxikosten und dem bürokratischen Ärger.
Auf der Gefällstrecke ins Rohrachtal reduzierte sie das Tempo auf die vorgeschriebenen 60, was hier erfahrungsgemäß um diese Nachtzeit kein Mensch tat. Sie fiel also schon wieder auf, obwohl sie sich absolut korrekt verhielt.
Der Hintermann hatte sich so weit genähert, dass die Scheinwerfer im Rückspiegel nicht mehr zu sehen waren. Eine zivile Polizeistreife würde dies nicht tun, redete sich Silke Rothfuß ein. Als ein Lastwagen entgegenkam und die Scheinwerfer das hintere Auto trafen, konzentrierte sie sich auf den inneren Rückspiegel, um die Umrisse des Fahrers zu erkennen. Doch sie konnte weder den Wagentyp erkennen, noch feststellen, ob hinter dem Steuer ein Mann oder eine Frau saß.
In der Talaue passte sie sich dem erlaubten Tempo 80 an, und spürte, dass sie der Wagen hinter ihr immer mehr beschäftigte. Sie überlegte krampfhaft, seit wann er ihr folgte. Was heißt denn das?, mahnte eine innere Stimme. Dich verfolgt keiner. Du siehst Gespenster, du bist übernervös. Betrunken.
Bemerkt hatte sie ihn erst hinter Urspring. Aber möglicherweise war er gleich aufgetaucht, nachdem sie in Luizhausen auf die Umgehungsstraße aufgefahren war. Oder womöglich hatte er auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus darauf gewartet, ihr folgen zu können.
Tausend Gefahren zuckten ihr durch den Kopf. Vielleicht war es sogar einer der Männer aus dem Lokal gewesen. Möglicherweise hatte man sie den ganzen Abend über belauscht.
Unsinn, versuchte sie, diese finsteren Gedanken zu zerstreuen. Sie durchfuhr die Rechtskurve, die an den Weiherwiesen entlangführte. Spätestens unten in der Stadt, so beruhigte sie sich, würde der Verfolger eine andere Richtung wählen. Und falls nicht, dann konnte sie ein paar Haken durch die Seitenstraßen schlagen und notfalls direkt zum Polizeirevier fahren. Doch kaum war dieser Gedanke entstanden, verwarf sie ihn energisch. Niemals würde sie in ihrem alkoholgeschwängerten Zustand bei der Polizei aufkreuzen können.
Während sie ihren gelben Eos gemächlich über das letzte Gefälle in die Stadt hineinrollen ließ und feststellen musste, dass der Fahrer hinter ihr auch dem Verlauf der B 10 folgte, anstatt zur historischen Altstadt abzubiegen, hatte sich in ihrem Kopf eine neue Idee entwickelt. Sie brauchte doch nur am Handy, das in der Freisprecheinrichtung am Armaturenbrett steckte, eine Kurzwahltaste zu drücken und wäre sofort mit Taler verbunden, der ihr heute früh angeboten hatte, ihr im Notfall helfen zu können. Sie hatte die Nummer vorsorglich entsprechend programmiert.
Aber noch ist es kein Notfall, mahnte ihre innere Stimme. Mach dich nicht verrückt.
Unter den Straßenlampen, die sich entlang der Jet-Tankstelle einerseits und der Aral-Tankstelle andererseits stadteinwärts zogen, versuchte sie erneut, im Rückspiegel die Person im hinteren Fahrzeug zu erkennen. Vermutlich ist’s ein Mann, dachte sie. Bei seinem Auto handelte es sich um eine schwarze Limousine, deren Kühlergrill weder auf einen Mercedes noch
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