Kuss der Sünde (German Edition)
haben.“
Pikiert zog sie die Nase kraus. „Deine Dreistigkeit ist unerhört. Du scheinst zu erwarten, für meine Gunst bezahlt zu werden.“
„Es ist meine Gunst, die bezahlt wird, Madame, denn ich persönlich kann auf die Ihre jederzeit verzichten.“
Er streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern schlug sie ein und wurde mit einem Händedruck und einem Lächeln belohnt. „Ich frage mich, wo Lazare mit dem Wein bleibt“, sagte er leichthin. „Auf diese Abmachung müssen wir trinken.“
„ Das Leben erlegt uns Prüfungen auf, und nicht jede davon können wir verstehen. Es bleibt uns nur übrig, sie zu meistern, liebes Kind. Finde Trost in der Erinnerung an Justin. Trost auch darin, einen kleinen Teil seines Lebens mit ihm verbracht zu haben. Besinne dich auf all die Gespräche, sein Lachen, seine Träume und bewahre, was ihm lieb und teuer war. Mehr kann ich dir nicht raten . “
Vor Vivianes Augen begannen die Buchstaben zu flirren. Der Brief ihrer Großmutter gab keine Antwort. Sie fand darin nur Phrasen. Es waren dieselben Floskeln, an die sie einst selbst geglaubt hatte, die sie voller Überzeugung vorgebracht hätte in der festen Absicht, andere damit über einen Verlust hinwegzutrösten. Es war zu wenig. Es war nichts.
„ Mein Haus steht d ir jederzeit offen. Verbringe den Sommer bei mir. Du kannst wieder im See schwimmen, durch den Wald reiten, oder wie einst als kleines Mädchen auf Bäume klettern. Hier auf dem Land, in den Wäldern deiner Familie wirst du deinen Fri e den und zu dir zurückfinden. Wahrlich, ich … “
Sie zerknüllte den Brief, ohne ihn zu Ende zu lesen. Die Ruhe und Freiheit auf dem Land bedeutete ihr nichts mehr. Sie würde ihr Leben führen, wie es ihr gefiel, ungeachtet der Konventionen und nach ihren Neigungen. Letztendlich hatte ihre Mutter genau das von ihr verlangt. Die Regeln der Gesellschaft, ein möglicher Skandal, wen kümmerte das schon? Nach dem letzten Atemzug fragte niemand mehr danach. Weshalb sollte sie länger den schönen Schein wahren? Wozu war es jemals gut gewesen?
Achtlos warf sie den Brief zu Boden und nahm ein Buch auf. Les Liaisons Dangereuses. Sie las es nun mit anderen Augen. Es bestätigte die Zwecklosigkeit aller Tugenden. Wer daran festhielt, verdoppelte sein Unglück. Sittsamkeit und Anstand wurden überschätzt. Die Ungeheuerlichkeit einer infamen Intrige verlor an Gewicht, denn letztendlich waren selbst die schwärzesten Seelen vor Verzweiflung nicht gefeit. Die Menschen waren Würfel, die Gott und Teufel nach Belieben warfen, um sich die Zeit zu vertreiben.
„Du eingebildete Gans!“
Juliette stürmte ihr Zimmer, als gälte es, eine feindliche Festung einzunehmen. Auf ihren Wangen prangten zwei rote Zornesflecken. Die Hände in die Seiten gestemmt baute sie sich vor Viviane auf.
„Du gemeine, verlogene Kuh! Neidisch bist du, weil du lang bist wie ein sprießender Salatkopf, sodass jeder vor dir zurückschreckt und das Weite sucht. Eine Giraffe bist du! Eine hässliche, alte Jungfer, die keinen abbekommt!“
In wortloser Überraschung musterte sie ihre Schwester. Seit Justin vor drei Wochen zu Grabe getragen worden war, neigte sie zu heftigen Temperamentsausbrüchen. Selten verging ein Tag, in dessen Verlauf sie nicht weinend in ihr Zimmer rannte. In der Familie versuchte jeder auf seine eigene Weise, mit dem Tod fertig zu werden.
Viviane klappte das Buch zu und legte es beiseite. „Worum geht es, Juliette?“
Sie warf den Kopf zurück. „Du weißt genau, worum es geht, du scheinheiliges Biest! Da sitzt du und liest dieses Buch, während du vor Kurzem noch langatmige Vorträge gehalten und es Pauline abgenommen hast. So machst du es mit allem. Du spielst dich als grundehrliche, gütige Jungfer auf und bist dabei die lügnerischste Person, die ich kenne. Eine ganz bigotte Heuchlerin bist du! Du gönnst anderen aus lauter Neid nicht die geringste Freude. Weil sich alles um dich drehen muss.“
Juliette wedelte wild mit den Händen, ohne dass Viviane dahinterkam, wovon die Rede war. Außer Bösartigkeiten hatte ihre Schwester nichts Hörenswertes zu sagen. Juliette füllte ihre Lungen, um in ihrer Tirade fortzufahren.
„Seit du hier bist, machst du dich wichtig. Ständig verlangst du Aufmerksamkeit, ständig mischst du dich in alles ein, ständig liegst du uns mit deinem blöden Geschwätz über ein Pensionat in den Ohren. Der Einzige, der etwas an dir findet, ist der fette Casserolles, und dem bleibt nichts anderes
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