Kuss der Sünde (German Edition)
ein, dass er ein zu großes Risiko einging, wenn er schon wieder in der Stadt auftauchte. Der große Coup, das Kollier, die de La Motte, sogar die Briefe waren ihm entfallen. Er riss so unbeherrscht an den Zügeln, dass sein Pferd erschrocken auf die Hinterhand stieg. Ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte, kehrte er um. Es blieb nur Lazare, der ihm Unterschlupf bieten konnte.
Er schlug einen Bogen um die Stadt und erreichte eine Stunde später einen Vorort, in dem die Hühner auf der Straße nach Körnern pickten und die Hausschweine frei umherstreiften. Vor einem Zaun, der einen verwilderten Garten umgrenzte, zügelte er sein Pferd. Das Haus stand inmitten des Wildwuchses, jederzeit in Gefahr, davon überwuchert zu werden. Er sprang aus dem Sattel und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Ohne einen Gruß schob er sich an Lazare vorbei. Sein Freund trug ein knielanges Nachthemd und kratzte über seine Narbe.
„Was gibt es so früh am Morgen?“
Ohne zu antworten ging Olivier in das einzig wohnliche Zimmer des Häuschens, setzte sich in einen abgewetzten Fauteuil und versank in den weichen Polstern.
„Geht’s um die de La Motte? Gibt es was Neues?“, fragte Lazare zunehmend besorgt.
„Ich muss nachdenken, das ist alles.“
Er sah sich um, ohne dem zerwühlten Bett, aus dem er Lazare gescheucht hatte, oder dem Durcheinander leerer Weinflaschen und herumliegender Kleidungsstücke am Boden Bedeutung beizumessen. Das war die Umgebung, in die er gehörte.
„Verflucht, Olivier, sag endlich, was passiert ist!“
Wenn er das bloß wüsste. Er hatte sich in Viviane ergossen, anstatt sich rechtzeitig zurückzuziehen, das war das eine, und er würde es Lazare nicht anvertrauen. Das andere konnte er nicht einmal in Worte fassen. Er verschränkte die Hände im Nacken und beugte sich mit gekrümmtem Rücken vor. Sein Haar fiel über sein Gesicht.
„Es ist diese junge Frau, nicht wahr? Viviane Pompinelle.“
„Ich will nicht darüber reden, Lazare.“
Für einige Atemzüge stand sein Freund vor ihm und trat von einem Fuß auf den anderen, als wollte er noch etwas loswerden. Dann schlug er Olivier auf die Schulter. „Tja, wenn’s um eine Frau geht, hilft Wein am besten. Ich hab noch eine Flasche in der Küche.“
Allein erwachte Viviane in dem breiten Bett, und das war nach dem Zauber der vergangenen Nacht verstörend. Sie verspürte weder Gewissensbisse noch Zweifel an ihrem Verhalten, und das machte seine Abwesenheit umso schlimmer.
Als wollte er die langen Nachtstunden leugnen. Ninon behauptete, sein Fernbleiben sei die Regel. Tage, gelegentlich auch Wochen blieb er verschwunden. Für die Haushälterin mochte es Alltag sein, für Viviane glich es einer Marter. Mochte er ein Fälscher und Dieb sein, ein Betrüger und in etliche Schandtaten verwickelt, er war der Mann, zu dem es sie hinzog. Ein Mann voller Wunder und Gegensätze, den sie nicht länger verachten konnte. Für sie stand fest, dass sie gefunden hatte, wonach sie viele Jahre vergeblich suchte.
In seinen Armen hatte sie zum ersten Mal die lang ersehnte Sicherheit und Akzeptanz gefunden. Wüsste er von ihrer diebischen Ader, würde er nur darüber lachen, denn was bedeutete sie schon im Vergleich zu seinen Umtrieben? Mit Geschick und Geistesgegenwart mogelte er sich durchs Leben und war damit reich geworden. Allein das verschwundene Kollier war ein Vermögen wert. Olivier war ihr nicht ähnlich, nein, er übertraf sie und schenkte ihr einen Blickwinkel auf das eigene Verhalten, der jede Scham beiseite fegte und daraus eine Kunst machte.
Die Tage verstrichen, und sie erwärmte sich immer mehr für den Gedanken einer gemeinsamen Zukunft. Das war es, was ihre Natur von ihr forderte. Ein aufregendes, unstetes Leben an der Seite eines Mannes wie Olivier. Gewiss würde er Verständnis für sie aufbringen. In seiner Nähe musste sie sich niemals verstellen.
Am Nachmittag des dritten Tages nahm ihre Ungeduld überhand. Sie musste wissen, was in ihm vorging, weshalb er ihr fernblieb. Nach einigem Zögern gesellte sie sich zu Ninon in den Garten. Drei Hunde, angeblich bissig und gefährlich, kamen ihr mit wedelnden Ruten entgegen und beschnüffelten den Rock eines von Ninon entliehenen Kleides. Wie das Nachthemd und der Morgenmantel war es zu kurz.
Die Haushälterin beschnitt die Rosen. Viviane nahm einen Weidenkorb und hielt ihn ihr hin. Welke Blüten fielen hinein.
„Danke“, sagte Ninon und blinzelte ihr aus dem Schatten einen
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