Kuss im Morgenrot: Roman
aufgehört zu schlagen, aber die Mädchen im Haus sagen, das kann nicht sein, weil sie gar keins hatte.«
»Oh«, flüsterte Catherine. Sie erbleichte, und ihre Miene gefror. Natürlich war es nur zu erwarten gewesen. Ihre Großmutter litt seit vielen Jahren an einer Herzkrankheit. Sie hätte angenommen, dass die Neuigkeit eine Erleichterung für sie darstellte, aber stattdessen war sie einfach nur entsetzt. »Und … meine Tante? Ist Althea immer noch dort?«
William blickte sich wachsam um, bevor er antwortete. »Sie hat jetzt den Puff. Ich arbeite für sie, merkwürdige Jobs, die gleichen wie für deine Großmutter. Aber der Laden ist jetzt anders, Miss. Viel schlimmer.«
Eine Welle des Mitleids überkam sie. Wie ungerecht, dass er in einem solchen Leben gefangen war, ohne Erziehung und Bildung, die ihm andere Möglichkeiten eröffnen könnten. Insgeheim beschloss sie Harry zu fragen, ob es nicht vielleicht im Hotel irgendeine Art von Beschäftigung für William gäbe, die ihm eine anständige Zukunft ermöglichte. »Und wie geht es meiner Tante?«, erkundigte sie sich.
»Sie ist sehr krank, Miss.« Seine Miene war sachlich. »Der Doktor hat gesagt, sie hat sich vor Jahren mal was eingefangen … ist in ihre Gelenke und dann ins Gehirn gewandert. Nicht ganz dicht im Kopf, deine Tante. Außerdem kann sie fast gar nichts mehr sehen.«
»Das tut mir leid«, sagte Catherine und versuchte Mitleid zu empfinden, aber stattdessen schnürte es ihr vor Angst die Kehle zu. Sie versuchte sie herunterzuschlucken, um noch mehr Fragen zu stellen, aber Leo unterbrach sie schroff.
»Das reicht«, erklärte er. »Die Droschke wartet.«
Catherine warf ihrem Freund aus der Kinderzeit einen sorgenvollen Blick zu. »Kann ich dir irgendwie behilflich sein, William? Brauchst du Geld?« Sie bereute die Frage sofort, als sie die Scham und den verletzten Stolz in seinem Gesicht sah. Hätte sie mehr Zeit gehabt und hätten es die Umstände erlaubt, sie hätte die Frage anders gestellt.
William schüttelte heftig den Kopf. »Brauche nichts, Miss.«
»Ich bin im Rutledge Hotel. Falls du mich brauchst, falls es etwas gibt, was ich für dich tun …«
»Werd dich nicht mehr belästigen, Miss Cathy. Du warst immer so freundlich zu mir. Hast mir Medizin gebracht, als ich krank war, weißt du noch? Du bist zu dem Laderost gekommen, auf dem ich lag, und hast mich mit deiner Decke zugedeckt. Hast dich neben mich auf den Boden gesetzt und auf mich aufgepasst …«
»Wir gehen jetzt«, sagte Leo und warf William eine Münze zu.
William fing sie geschickt auf. Er ließ die Faust sinken und blickte Leo mit einer Mischung aus Gier und Verbitterung an. Sein Gesicht wurde hart. Dann sagte er mit übertriebenem Akzent: »Danke, Chef.«
Leo packte Catherine entschlossen am Ellbogen, führte sie zur Kutsche und half ihr beim Einsteigen. Als sie schließlich auf dem engen Sitz Platz genommen hatte und hinausschaute, war William verschwunden.
Der Sitz war so schmal, dass sich die Masse von Catherines Röcken, Schichten rosenfarbener Seide, die wie Rosenblätter angeordnet waren, über einen von Leos Oberschenkeln ergoss.
Leo betrachtete sie von der Seite und dachte insgeheim, dass sie streng und verbittert aussah, ganz wie die Marks früherer Tage.
»Es war nicht nötig, mich so wegzuzerren«, meinte sie. »Du warst unhöflich zu William.«
Er warf ihr einen reuelosen Blick zu. »Zweifellos werde ich mich später, wenn ich darüber nachdenke, ganz schrecklich fühlen.«
»Ich hätte ihm gerne noch ein paar mehr Fragen gestellt.«
»Ja, ich bin sicher, dass es noch eine Menge über Puffkrankheiten zu erfahren gegeben hätte. Vergib mir, dass ich dich des Vergnügens einer so aufschlussreichen Unterhaltung beraubt habe. Ich hätte euch beide noch eine Weile in den Erinnerungen über die guten alten Zeiten in einem Puff schwelgen lassen sollen.«
»William war so ein lieber kleiner Junge«, sagte Catherine leise. »Er hätte ein besseres Los verdient. Er musste schon arbeiten, da war er gerade mal zwei Jahre alt. Schuhe putzen, schwere Wassereimer die Treppe hinauf- und hinunterschleppen … er hatte keine Familie, keine Erziehung. Hast du gar kein Mitleid mit denen, die in misslichen Umständen aufwachsen?«
»Die Straßen sind voll mit solchen Kindern. Ich mache im Parlament alles für sie, was in meiner Macht steht, und ich spende für die Wohlfahrt. Doch, ich habe Mitleid mit ihnen. Aber im Augenblick interessiere ich mich mehr für deine
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