Kuss im Morgenrot: Roman
Weile schweigend wie ein Kunstwerk in einem Museum, dessen wahres Wesen es noch zu entdecken galt. Sein Interesse an ihr war unwiderstehlich. Verführerisch. Und er war ein wunderbarer Gesprächspartner und ein guter Unterhalter. Er erzählte ihr Anekdoten über seine Missgeschicke in der Kindheit, darüber, was es bedeutete, in einer Hathaway-Familie aufzuwachsen, über seine Zeit in Paris und in der Provence. Catherine hörte aufmerksam zu und fügte die Einzelheiten wie die Flicken einer Decke zusammen, um einen der komplexesten Männer in ihrem Leben besser zu begreifen.
Leo war ein unsentimentaler Gauner, der zu großem Verständnis und Mitgefühl fähig war. Er war ein redegewandter Mann, der seine Worte beliebig einsetzen konnte. Einmal waren sie so beruhigend wie Honigbalsam, ein andermal scharf wie ein Seziermesser. Wenn es ihm gelegen kam, spielte er die Rolle des überdrüssigen Aristokraten und verstand es, seinen flinken, lebhaften Geist geschickt zu verbergen. Aber dann und wann, in unbedachten Augenblicken, erhaschte Catherine auch einen Blick auf den furchtlosen Jungen, der er einmal gewesen war, bevor ihn das Leben härter gemacht hatte.
»In mancher Hinsicht ist er unserem Vater sehr ähnlich«, erzählte Poppy ihr, als sie einmal allein waren. »Vater liebte die Konversation. Er war ein ernster Mann, ein Intellektueller, aber er hatte auch seine Wunderlichkeiten.« Sie grinste, als sie sich plötzlich wieder an Details erinnerte. »Meine Mutter sagte immer, sie hätte vielleicht einen schöneren oder wohlhabenderen Mann heiraten können, aber keinen, der so redete wie er. Und sie wusste, dass sie die Sorte von Frau war, die mit einem Dummkopf nie glücklich geworden wäre.«
Catherine konnte das gut nachvollziehen. »Hat Lord Ramsay auch irgendwelche Ähnlichkeiten mit eurer Mutter?«
»Oh, ja. Sie hatte ein künstlerisches Auge, und sie bestärkte Leo in seinen architektonischen Aktivitäten.« Poppy hielt inne. »Ich glaube nicht, dass sie begeistert gewesen wäre zu erfahren, dass Leo einen Titel geerbt hat – sie hatte keine hohe Meinung von der Aristokratie. Und gewiss hätte sie auch Leos Verhalten der letzten Jahre niemals gutgeheißen, wenngleich sie über seine Entscheidung, sich zu bessern, sicherlich sehr froh gewesen wäre.«
»Und von wem hat er seinen schelmischen Geist?«, erkundigte sich Catherine. »Von eurer Mutter oder eurem Vater?«
»Der«, antwortete Poppy trocken, »gehört Leo ganz allein.«
Fast jeden Tag brachte Leo Catherine ein kleines Geschenk mit: ein Buch, eine Bonbondose, ein Halsband aus Brüsseler Klöppelspitze mit einem zarten Blumenlochmuster. »Das ist die wunderschönste Spitzenarbeit, die ich je gesehen habe«, gestand sie schweren Herzens und legte das kostbare Geschenk behutsam auf einen Tisch. »Aber Mylord, ich fürchte …«
»Ich weiß«, sagte Leo. »Ein Gentleman sollte der Dame, die er umwirbt, keine persönlichen Geschenke machen.« Er dämpfte die Stimme und achtete darauf, dass Poppy und die Haushälterin, die auf der Schwelle der Rutledge-Gemächer miteinander sprachen, ihn nicht hören konnten. »Aber ich kann es nicht zurücknehmen – es würde keiner anderen Frau gerecht werden. Und Marks, du hast ja keine Ahnung, welche Selbstbeherrschung ich an den Tag gelegt habe. Ich wollte dir ein paar bestickte Strümpfe schenken, deren Blümchenmuster über die Innenseite deiner …«
»Mylord«, flüsterte Catherine mit leicht gerötetem Gesicht. »Du vergisst dich.«
»Tatsächlich habe ich überhaupt nichts vergessen. Nicht ein Detail deines wunderbaren Körpers. Bald werde ich dich wieder nackt zeichnen. Jedes Mal, wenn ich einen Stift zur Hand nehme, überkommt mich die Versuchung.«
Sie versuchte ein strenges Gesicht aufzusetzen. »Du hast mir versprochen, es nicht wieder zu tun.«
»Aber mein Stift hat seinen eigenen Willen«, erwiderte er ernst.
Catherine wurde noch röter im Gesicht, wenn auch ein Lächeln ihre Lippen umspielte. »Du bist unverbesserlich.«
Er senkte leicht die Lider. »Küss mich, und ich werde mich benehmen.«
Sie stieß einen verzweifelten Laut aus. » Jetzt willst du mich küssen, wo Poppy und die Haushälterin nur ein paar Meter von uns entfernt sind?«
»Sie werden nichts merken. Sie sind in eine fesselnde Unterhaltung über die Hotelhandtücher vertieft.« Leo dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. »Küss mich. Nur ein kleiner Kuss. Hierhin.« Er zeigte auf seine Wange.
Vielleicht lag es daran, dass
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