Kuss im Morgenrot: Roman
Niemand in der Hathaway-Familie würde jemals so sein wie die anderen Mitglieder der Londoner Gesellschaft, noch würden sie es anstreben.
Sie ging in die Bibliothek, um sich ein paar Bücher für den Unterricht mit Beatrix zu besorgen. Als sie den Raum betrat, stockte ihr der Atem, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Über den langen Bibliothekstisch gebeugt saß Leo und schrieb etwas auf eine Reihe von Zeichnungen, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
Leo wandte den Kopf und sah sie mit durchdringenden Augen an. Ihr wurde heiß und kalt. Ihr Kopf schmerzte an den Stellen, wo sie ihr Haar zu fest zurückgesteckt hatte.
»Guten Morgen«, sagte sie atemlos und wich einen Schritt zurück. »Ich wollte Sie nicht stören.«
»Sie stören nicht.«
»Ich wollte nur ein paar Bücher holen, wenn … wenn ich darf.«
Leo antwortete mit einem einfachen Kopfnicken und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Zeichnungen zu.
Über alle Maßen befangen und sich ihrer selbst auf unangenehme Weise bewusst, ging Catherine zu den Bücherregalen, um die Bücher zu suchen, die sie hatte holen wollen. Es war so still im Raum, dass sie glaubte, ihr Herzschlag müsse zu hören sein. Dem verzweifelten Bedürfnis folgend, das bedrückende Schweigen zu brechen, fragte sie: »Entwerfen Sie ein Gebäude für das Gut? Einen Pachthof?«
»Einen Anbau für die Ställe.«
»Oh.«
Catherine starrte blicklos auf die Bücherreihen. Würden sie so tun, als hätten die Ereignisse der letzten Nacht niemals stattgefunden? Das wäre ihr natürlich am liebsten.
Aber dann hörte sie Leo sagen: »Wenn Sie eine Entschuldigung erwarten, so werden Sie von mir keine bekommen.«
Catherine drehte sich zu ihm um. »Wie bitte?«
Leos Blick war noch immer auf die Reihe von Entwürfen gerichtet. »Wenn Sie nachts einen Mann in seinem Bett aufsuchen, erwarten Sie nicht, dass er mit Ihnen Tee trinken will.«
»Ich habe Sie nicht in Ihrem Bett aufgesucht«, verteidigte sie sich. »Das heißt, Sie waren in Ihrem Bett, aber es war nicht mein Wunsch, Sie dort vorzufinden.« Als sie merkte, wie absurd ihre Ausflüchte waren, widerstand sie dem Impuls, sich die Hand vor den Kopf zu schlagen.
»Um zwei Uhr morgens«, teilte Leo ihr mit, »bin ich so gut wie immer auf einer Matratze anzutreffen und mit einer von zwei Aktivitäten beschäftigt. Eine davon ist Schlafen. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen die andere näher erläutern muss.«
»Ich wollte nur nachsehen, ob Sie noch fieberten«, sagte sie mit tiefrotem Gesicht. »Ob Sie etwas brauchten.«
»Offensichtlich ja.«
Catherine hatte sich noch nie so entsetzlich unwohl gefühlt. Ihre eigene Haut schien plötzlich zu eng für ihren Körper. »Werden Sie es jemandem erzählen?«, wagte sie zu fragen.
Er hob spöttisch eine Braue. »Sie haben Angst, ich könnte unser nächtliches Stelldichein in die Welt hinausposaunen? Nein, Marks. Was sollte mir das bringen? Außerdem haben wir sehr zu meinem Bedauern nicht annähernd etwas gemacht, das sich für einen anständigen Tratsch eignen würde.«
Glühend rot vor Scham ging Catherine zu einem Haufen von Zetteln und Zeichnungen, die auf dem Tisch in der Ecke lagen, und schob sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen. »Habe ich Ihnen wehgetan?«, gelang es ihr zu fragen. Sie musste daran denken, wie sie ihm versehentlich auf die Wunde gefasst hatte. »Haben Sie heute Morgen Schmerzen?«
Leo zögerte, ehe er antwortete. »Nein. Nachdem Sie gegangen waren, ließ es bald nach. Aber es bräuchte weiß Gott nicht viel, um es wieder in Gang zu setzen.«
Catherine war von tiefer Reue erfüllt. »Es tut mir so leid. Soll ich Ihnen einen Wickel machen?«
»Einen Wickel?«, wiederholte er verdutzt. »Auf meinen … oh . Wir sprechen von meiner Schulter?«
Sie blinzelte verwirrt. »Natürlich sprechen wir von Ihrer Schulter. Wovon sonst?«
»Cat …« Leo wandte den Blick ab. Zu ihrer Überraschung bebte seine Stimme, als würde er jeden Moment loslachen. »Wenn ein Mann stark erregt ist und unbefriedigt zurückgelassen wird, kann das auch schmerzhaft sein.«
»Wo?«
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
»Sie meinen …« Eine glühende Röte stieg ihr ins Gesicht, als sie schließlich begriff. »Nun, ob Sie dort Schmerzen haben, interessiert mich nicht, ich machte mir nur Sorgen um Ihre Wunde!«
»Ach, der geht es schon viel besser«, versicherte Leo ihr, und seine Augen glänzten vor Belustigung. »Was allerdings den anderen Schmerz betrifft
Weitere Kostenlose Bücher