Kuss im Morgenrot: Roman
übervoll: Menschentrauben zu allen Seiten und in der Mitte tanzende Paare. Leo musste zugeben, dass eine ungewöhnliche Zahl attraktiver junger Damen anwesend war. Sie sahen alle liebenswürdig und gewöhnlich und jugendlich frisch aus. Genau genommen sahen sie alle gleich aus. Doch er gab sich alle Mühe, mit so vielen wie möglich zu tanzen, einschließlich der Mauerblümchen, und er überredete sogar die eine oder andere alte Witwe, eine Runde mit ihm zu drehen.
Und die ganze Zeit über versuchte er, einen Blick von Catherine Marks zu erhaschen.
Sie trug ein lavendelfarbenes Kleid, dasselbe, das sie auf Poppys Hochzeit getragen hatte. Ihr Haar hatte sie zu einem glatten, festen Knoten im Nacken zusammengefasst. Sie wachte über Beatrix und hielt sich dabei diskret im Hintergrund.
Leo hatte Catherine schon unzählige Male dabei beobachtet, wie sie still und unauffällig bei den Witwen und Anstandsdamen stand, während die Mädchen, die nur wenig jünger waren als sie, schäkerten und lachten und tanzten. Es war absurd, dass Catherine niemandem auffallen sollte. Sie stand allen anwesenden Frauen in nichts nach. Zum Teufel mit dem Hintergrundgetue!
Irgendwie musste Catherine seinen Blick gespürt haben. Sie drehte sich herum und starrte ihn an, und es schien, als könnte sie den Blick genauso wenig von ihm losreißen wie er von ihr.
Eine Matrone nahm Catherines Aufmerksamkeit in Anspruch, und sie wandte sich der verfluchten Frau zu.
Zur gleichen Zeit tauchte Amelia an seiner Seite auf und packte ihn am Ärmel.
»Mylord«, sagte sie angespannt. »Es ist etwas eingetreten. Nichts Gutes.«
Er sah seine Schwester interessiert an und stellte fest, dass sie ein falsches Lächeln aufgesetzt hatte, offenbar für den Fall, dass jemand sie beobachtete. »Und ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass heute Abend noch etwas Interessantes passieren würde«, erwiderte er. »Was liegt an?«
»Miss Darvin und Countess Ramsay sind hier.«
Leo starrte sie verständnislos an. »Hier? Jetzt?«
»Cam, Win und Merripen unterhalten sich in der Empfangshalle mit ihnen.«
»Wer zum Teufel hat sie eingeladen?«
»Niemand. Sie haben gemeinsame Bekannte – die Ulsters – dazu gebracht, sie als Gäste mitzubringen. Und wir können sie nicht abweisen.«
»Warum nicht? Sie sind hier nicht erwünscht.«
»So unschicklich es auch von den beiden ist, ohne Einladung hierherzukommen, es wäre noch schlimmer, wenn wir ihnen den Zutritt verweigern würden. Das würde uns entsetzlich unfreundlich dastehen lassen, und gelinde ausgedrückt, es wäre kein gutes Benehmen.«
»Viel zu oft«, dachte Leo laut, »steht ein gutes Benehmen in direktem Gegensatz zu dem, was ich möchte.«
»Das Gefühl kenne ich gut.«
Sie tauschten ein grimmiges Lächeln.
»Was, glaubst du, wollen sie?«, fragte Amelia.
»Lass es uns herausfinden«, sagte Leo kurzerhand. Er bot ihr seinen Arm an und führte sie aus dem Gesellschaftszimmer in die Empfangshalle.
Mehr als ein paar neugierige Blicke galten ihnen, als sie sich zu den anderen Hathaways gesellten, die um zwei Frauen in prächtigen Ballkleidern herumstanden.
Die Ältere von beiden, vermutlich Countess Ramsay, war von mittelmäßiger Erscheinung, etwas füllig, weder attraktiv noch unansehnlich. Die Jüngere, Miss Vanessa Darvin, war eine wahre Schönheit, groß, mit einer eleganten Figur und üppigem Busen, wunderbar zur Schau gestellt in einem blaugrünen, mit Pfauenfedern besetzten Kleid. Die schwarzen Locken hatte sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Ihr Mund war klein mit vollen Lippen und besaß die Farbe einer reifen Pflaume. Sie hatte sinnliche dunkle Augen und dichte lange Wimpern.
Alles an Vanessa Darvin zeugte von sexuellem Selbstbewusstsein, eine Qualität, die Leo weiß Gott noch keiner Frau übel genommen hatte. Nur dass es bei diesem Mädchen irgendwie abstoßend wirkte. Vielleicht weil sie ihn ansah, als erwartete sie, dass er vor ihr auf die Knie fallen und anfangen würde zu keuchen wie ein Mops in Atemnot.
Mit Amelia am Arm schritt Leo auf das Paar zu. Sie wurden einander vorgestellt, und Leo verneigte sich mit tadelloser Höflichkeit.
»Willkommen in Ramsay House, Mylady. Und Miss Darvin. Welche eine angenehme Überraschung!”
Die Countess strahlte ihn an. »Ich hoffe, unser unerwartetes Auftauchen bereitet Ihnen keine Unannehmlichkeiten, Mylord. Doch als Lord und Lady Ulster bekanntmachten, dass Sie einen Ball geben – der erste in Ramsay House seit seiner
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