Kuss im Morgenrot: Roman
dass sich ein Dritter dem Schauplatz näherte.
»Latimer.« Es war Leos Stimme, die die Luft wie die messerscharfe Klinge eines Stahlschwerts durchschnitt. »Wenn hier jemand meine Angestellten belästigt, Latimer, dann bin ich das. Und deine Unterstützung brauche ich dabei sicherlich nicht.«
Zu Catherines unermesslicher Erleichterung lockerte sich der brutale Griff und gab sie frei. Sie wich so hastig zurück, dass sie beinahe gestolpert wäre. Doch Leo war mit einem einzigen Schritt bei ihr und fing den Schwung ab, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legte. Die Zartheit seiner Berührung, eines Mannes, der einen Sinn für Zerbrechlichkeit hatte, stand in krassem Gegensatz zu Latimers Taktlosigkeit.
So hatte sie Leo noch nie gesehen. Aus seinen Augen blitzte Mordlust. Er war ein völlig anderer Mann als der, der noch vor ein paar Minuten mit ihr getanzt hatte.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er.
Catherine nickte und starrte wie benommen zu ihm auf, und all ihr Elend schien sich in diesem Blick auszudrücken. Wie gut war er mit Lord Latimer bekannt? Großer Gott, konnte es möglich sein, dass sie sogar Freunde waren? Und wenn … hätte Leo vielleicht das Gleiche mit ihr gemacht, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, damals vor all den Jahren?
»Lassen Sie uns einen Augenblick alleine«, murmelte Leo und nahm die Hand von ihrer Schulter.
Catherine blickte noch einmal flüchtig zu Latimer, und sie schauderte vor Abscheu und Ekel, bevor sie ihre Röcke raffte und davonrannte, während ihr ganzes Leben mit einem Mal über ihr zusammenbrach.
Leo starrte Catherine nach und widerstand dem Drang, ihr zu folgen. Er würde später zu ihr gehen und versuchen, sie zu beruhigen und den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Und der Schaden war erheblich – das hatte er in ihren Augen gesehen.
Als er sich wieder Latimer zuwandte, konnte er der Versuchung, ihn an Ort und Stelle umzubringen, nur knapp widerstehen. Stattdessen setzte er ein unerbittliches Gesicht auf. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du eingeladen bist«, sagte er, »sonst hätte ich den Hausmädchen vorher geraten, in Deckung zu gehen. Jetzt mal im Ernst, Latimer, hast du es wirklich nötig, dich unwilligen Frauen aufzudrängen, wo du doch so viele zu deiner freien Verfügung hast?«
»Wie lange hast du sie schon?«
»Wenn du damit meinst, wie lange Miss Marks schon bei uns angestellt ist, dann sind es jetzt nicht ganz drei Jahre.«
»Du brauchst mir nicht länger vorzugaukeln, dass sie eine Angestellte der Familie ist«, entgegnete Latimer. »Kluger Bursche, hältst dir deine Mätresse aus Bequemlichkeit im eigenen Haushalt. Ich würde sie gerne mal ausleihen. Nur für eine Nacht.«
Es fiel Leo zunehmend schwerer, seine Wut zu beherrschen. »Wie in Gottes Namen kommst du darauf, dass sie meine Mätresse ist?«
»Sie ist das Mädchen, Ramsay. Die eine, von der ich dir erzählt habe! Erinnerst du dich nicht?«
»Nein«, sagte Leo schroff.
»Wir waren damals zwar rund um die Uhr betrunken«, räumte Latimer ein, »aber ich dachte, du hättest mir zugehört.«
»Du bist selbst in nüchternem Zustand belanglos und lästig, Latimer. Warum bitte sollte ich dir zugehört haben, wenn du betrunken warst? Und was zum Teufel meinst du mit ›sie ist das Mädchen‹?«
»Ich hatte sie der alten Puffmutter abgekauft. Das heißt, ich hatte sie bei einer Art Privatauktion gewonnen. Sie war das reizendste Ding, das ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte, nicht älter als fünfzehn, mit ihren goldenen Locken und den außergewöhnlichen Augen. Die Puffmutter versicherte mir, dass das Mädchen vollkommen unberührt sei, dass man ihr aber alles beigebracht habe, was einen Mann glücklich macht. Ich habe ein Vermögen ausgegeben, um das Mädchen ein Jahr lang zu meiner freien Verfügung zu haben, mit der Option, das Arrangement auf Wunsch zu verlängern.«
»Wie praktisch für dich«, sagte Leo mit zusammengekniffenen Augen. »Ich nehme an, du hast es nie für nötig gehalten, das Mädchen zu fragen, ob sie von dem Arrangement auch so begeistert war?«
»Nicht nötig. Das Arrangement war nur zu ihren Gunsten. Es war ihr Glück, eine geborene Schönheit zu sein, sie musste nur noch lernen, davon zu profitieren. Am Ende sind doch alle Frauen Nutten, hab ich recht? Es ist nur eine Frage der Verhältnisse und der Preise.« Latimer hielt inne und grinste spöttisch. »Und sie hat dir von alldem nichts erzählt?«
Leo ignorierte die Frage.
Weitere Kostenlose Bücher