Kuss im Morgenrot: Roman
verschwunden. Außerdem habe ich das hier auf der Frisierkommode gefunden.«
Sie hielt Amelia ein gefaltetes Blatt Papier hin. Amelia faltete es auseinander und überflog die geschriebenen Zeilen.
»Was steht denn darin?«, wollte Leo wissen, der bereits auf die Füße gesprungen war.
Amelia reichte ihm den Brief ohne ein Wort.
Bitte verzeiht mir, dass ich ohne ein Wort des Abschieds von euch gehe. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich werde niemals die Dankbarkeit ausdrücken können, die ich für eure Freundlichkeit und Großzügigkeit empfinde. Ich hoffe, ihr findet es nicht anmaßend von mir, wenn ich sage, dass ich euch, obwohl ihr nicht meine wirkliche Familie seid, immer als meine Familie im Herzen tragen werde.
Ich werde euch alle vermissen.
Auf ewig,
eure
Catherine Marks
»Guter Gott«, knurrte Leo und warf den zusammengefalteten Brief auf den Tisch. »Die Dramatik in diesem Haushalt ist größer, als es ein Mann aushalten kann. Ich hätte doch angenommen, dass man ein vernünftiges Gespräch am heimischen Herd von Ramsay House hätte führen können, stattdessen läuft sie einfach auf und davon in die dunkle Nacht und hinterlässt einen Brief voll mit sentimentalem Quatsch.«
»Es ist kein Quatsch«, sagte Amelia verteidigend.
Tränen des Mitgefühls stiegen Win in die Augen, als sie den Brief las. »Kev, wir müssen sie finden.«
Merripen legte die Hand auf ihre.
»Sie ist auf dem Weg nach London«, murmelte Leo. Soweit er wusste, war Harry Rutledge der einzige Mensch, an den Cat sich wenden konnte. Natürlich waren auch Harry und Poppy zum Ball eingeladen gewesen, doch das Hotelgeschäft hatte es ihnen nicht erlaubt, London schon wieder zu verlassen.
Wut und ein jähes Gefühl von Dringlichkeit überfielen Leo wie aus dem Nichts. Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber die Entdeckung, dass Cat die Familie verlassen hatte … ihn verlassen hatte … erfüllte ihn mit einer Wut, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte.
»Die Postkutsche verlässt Stony Cross normalerweise um fünf Uhr dreißig«, erklärte Merripen. »Was bedeutet, dass du eine echte Chance hast, sie einzuholen, bevor sie Guildford erreicht. Ich komme mit, wenn du möchtest.«
»Ich auch«, sagte Win.
»Wir sollten alle gemeinsam gehen«, verkündete Amelia.
»Nein«, erwiderte Leo grimmig. »Ich gehe alleine. Sollte ich Marks tatsächlich aufsammeln, würdet ihr lieber nicht dabei sein wollen.«
»Leo?«, fragte Amelia misstrauisch. »Was hast du mit ihr vor?«
»Warum bestehst du nur so hartnäckig darauf, Fragen zu stellen, wo du doch weißt, dass dir die Antworten nicht gefallen?«
»Weil ich als geborene Optimistin«, erwiderte sie bissig, »die Hoffnung nicht aufgebe, dass ich falsch liege.«
Siebzehntes Kapitel
Nun, da die Post meist mit der Eisenbahn transportiert wurde, waren die Kutschfahrpläne erheblich eingeschränkt. Catherine hatte Glück gehabt, einen Innensitzplatz in einer Kutsche nach London zu ergattern.
So glücklich fühlte sie sich allerdings gar nicht.
Sie war sogar ziemlich unglücklich, und sie fror selbst in dem stickigen Kutschabteil. Das Gefährt war rappelvoll, alle Innen- und Außenplätze waren besetzt, und die Pakete und Koffer waren eher schlecht als recht aufs Dach geschnallt. Das ganze Ding fühlte sich gefährlich überladen an, wie es über die holprigen Pflasterstraßen ruckelte. Zehn Meilen pro Stunde, so hatte einer der männlichen Passagiere geschätzt und die Stärke und Strapazierfähigkeit der massiven Fahrwerke bewundert.
Verdrossen starrte Catherine aus dem Fenster und sah zu, wie die Wiesen von Hampshire in das dichte Waldland und die betriebsamen Marktstädtchen von Surrey übergingen.
In der Kutsche befand sich nur noch eine weitere Frau, eine füllige und gut gekleidete Matrone, die mit ihrem Ehemann reiste. Sie döste in der gegenüberliegenden Ecke des Wagens und gab leise Schnarchlaute von sich. Bei jeder Erschütterung fingen die Objekte auf ihrem Hut an zu zittern und zu klappern. Und was für ein Hut das war! Verziert mit Büscheln künstlicher Beeren, einer Feder und einem kleinen ausgestopften Vogel.
Mittags hielt die Kutsche an einem Gasthaus, wo die Pferde ausgetauscht wurden, um für den nächsten Streckenabschnitt gut gerüstet zu sein. Froh über die kleine Pause strömten die Passagiere aus der Kutsche und in die Taverne.
Catherine wollte ihre Gobelin-Reisetasche nicht unbeaufsichtigt im Wagen lassen, also nahm sie sie mit. Die Tasche war
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