Kuss mich kuss mich nicht
seines Rasierwassers noch in der Nase hing, konnte sie kaum glauben, dass Jack Walker wirklich hier gewesen war. Ebenso wahrscheinlich wäre es gewesen, dass plötzlich Bill Gates vor ihrer Haustür stünde, überlegte sie.
Sie hatte ihren ganzen Mut gebraucht, um auf ihn zuzugehen, weil sie dieser Walker einfach nervös machte. Aber das war sicher vollkommen normal. Denn schließlich bot er ihr die Chance ihres Lebens an. Er war reich und deshalb mächtig, und sie spürte, dass er alles, was er haben wollte, früher oder später auch bekam – selbst wenn er dafür jemand anderen zahlen ließ. Weshalb er das genaue Abbild ihres Vaters war.
Vor allem aber brachte er sie dadurch aus dem Gleichgewicht, dass sie sich in seiner Nähe fühlte, als hätte jemand ein paar Überbrückungskabel an ihren Zehen festgemacht.
Er hatte recht. Sie wollte das Gemälde konservieren. Unbedingt.
Trotzdem war es richtig, wenn sie standhaft blieb. Ihre finanziellen Nöte machten sie verletzlich, und da ihr nur noch ein Wunder helfen konnte, hätte sie gerne geglaubt, dass ihr eines widerfahren war. Nur war der Gedanke, dass der Mann vor ihrer Tür auf sie gewartet und ihr einen derartigen Traumjob angeboten hatte, ganz einfach zu schön, um wirklich wahr zu sein.
Aber vielleicht suchte sie auch nur nach einer Ausrede, um ihn ablehnen zu können. Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas Angst davor, allein an einem solchen Bild zu arbeiten. Und vielleicht war die Tatsache, dass ihr der Mann gefiel, nur eine weitere Gefahr.
Mit der Annahme des Auftrags fingen die Probleme wahrscheinlich erst richtig an. Kopfschüttelnd steckte Callie die Visitenkarte in ihre Manteltasche, nahm zwei Mahnungen aus ihrem Briefkasten und ging die sechs Treppen zu ihrem Apartment hinauf. Im Treppenhaus roch es nach dem indischen Essen der Familie im ersten und dem Terpentin des Malers aus dem zweiten Stock, und als sie vor ihrer Wohnung stand, fing der kleine Hund von gegenüber an zu jaulen, und seine Besitzerin, eine zerbrechliche ältere Dame, brachte ihn mit ihrer überraschend harten, durchdringenden Stimme zur Räson.
Callie schloss die Tür, lehnte sich gegen das Holz und hörte das Tropfen der Dusche in ihrem kleinen Bad.
Dann zog sie den Mantel aus, trat vor ihr Bett und blickte auf den Fünfzig-Dollar-Schreibtisch, den sie selbst gestrichen hatte, den bescheidenen Teppichrest, der von der Renovierung von Stanleys Büro übrig geblieben war, und den aus Zementblöcken und einer Holzplatte gebauten kleinen Tisch.
Auf dem seit dem Einbruch nicht mal mehr die altersschwache Glotze stand.
Dann blickte sie auf ihren Schrank und den Hosenanzug von Chanel, der an einer der Türen hing. Die goldenen Knöpfe mit den verschlungenen Cs schimmerten im Licht, und der gesamte Anzug wirkte hier in diesem Loch genauso deplatziert wie Walkers Limousine vor dem Haus.
Der Anzug gehörte Grace. Callie war klitschnass gewesen, als sie ihrer Halbschwester zum ersten Mal begegnet war, und deshalb hatte Grace ihr etwas zum Anziehen geliehen. Sie warf sich rücklings auf ihr Bett und überlegte, dass sich durch einen Verkauf von diesem Ding wahrscheinlich nicht nur ihre bisherigen Mietschulden begleichen ließen, sondern obendrein genügend Kohle übrig bliebe, damit sie auch die nächsten beiden Monate nicht auf der Straße saß.
Schließlich wurde ihr kalt, und sie rollte sich zusammen, zog sich die Decke bis zum Bauch, sah sich noch einmal in ihrer schäbigen Behausung um und hoffte, dass es für ihre Probleme eine Lösung gab.
An der Jack Walker nicht beteiligt war.
Gegen vier Uhr in der Früh entschied sie sich dafür, den Auftrag anzunehmen. Nicht des Geldes wegen, obwohl das natürlich ebenfalls nicht zu verachten war. Das Porträt war einfach wunderbar, und wenn sie die Chance, damit zu arbeiten, aufgrund von Selbstzweifeln oder der übertriebenen Reaktion auf einen Mann ungenutzt verstreichen ließe, würde sie sich das nie verzeihen.
Nachdem sie sich entschlossen hatte zuzusagen, fing sie mit der Planung ihrer Arbeit an. Alleine schaffte sie es sicher nicht, aber glücklicherweise hatte sie noch gute Beziehungen zu ihren Professoren von der Uni, und falls sie Probleme mit der Konservierung hätte, könnte sie zu ihnen gehen. Außerdem ginge sie jede Wette ein, dass sie ihr einen Arbeitsplatz anbieten und sie eins der Mikroskope nutzen lassen würden, wenn sie höflich darum bat. Die Kosten für das Arbeitsmaterial würden von Jack Walker übernommen,
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