Kuss mich kuss mich nicht
auf den Tisch.
Dann starrte sie auf das Bild und versuchte, die entsprechende Begeisterung für das gleich beginnende Abenteuer zu entwickeln, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie schließlich begann.
Nachdem die Dokumentation erfolgreich abgeschlossen war, wäre der nächste Schritt die Entfernung des Schmutzes und des alten Lacks. Als Erstes müsste sie bestimmen, was für eine Art von Lack auf das Gemälde aufgetragen worden war, und ein Lösungsmittel wählen, das stark genug wäre, um die Schutzschicht zu entfernen, aber gleichzeitig nicht intensiv genug, um auch die Farbschicht anzugehen. Sie würde die linke untere Ecke für die Proben nehmen, denn sie war hinter dem Rahmen versteckt.
Als sie gestern Nacht schließlich ins Bett gegangen war, hatte sie sich die Aufzeichnungen zu dem Bild noch einmal angesehen. Der Lack war Anfang der 1930er-Jahre im Rahmen der letzten Säuberung aufgetragen worden, das hieß, dass er aus natürlichen Stoffen bestand. Damals waren noch keine synthetischen Mittel verwendet worden, und sie hatte Chemikalien mitgebracht, mit denen sich ein auf Baumharz basierender Lack auflösen ließ.
Sie hatte sechs Lösungsmittel in verschiedenen Stärken, und jetzt wählte sie das schwächste aus und schraubte den Deckel auf, woraufhin ihr der vertraute süßliche Geruch der Chemikalie entgegenschlug. Bevor sie sich an die Arbeit machte, machte sie zwei Fenster jeweils einen Spaltbreit auf, damit Artie auch weiterhin genügend frische Luft bekam. Dann setzte sie zum Schutz vor den aufsteigenden Dämpfen ihre Atemmaske auf, nahm einen Holzstab in die Hand, wickelte einen kleinen Wattebausch um seine Spitze, tauchte ihn in das Lösungsmittel ein und strich damit vorsichtig über das Bild.
Sie war nicht überrascht, weil die Wirkung unbeachtlich war, kehrte zurück zu ihren Gläsern und wählte das zweitschwächste Lösungsmittel aus. Gleichzeitig führte sie Buch über die benutzten Chemikalien und notierte sorgfältig, welches die richtige Mischung war.
Nachdem sie sie gefunden hatte, wagte sie sich an das Gemälde selbst. Wann immer der Wattebausch zu schmutzig wurde, entsorgte sie ihn in einem verschließbaren Glas, wickelte frische Watte um den Stab und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Dieser Teil der Arbeit machte ihr immer am meisten Spaß. Die ruhige, intensive Konzentration auf einen winzigen Bereich, die Vorsicht, die sie walten lassen musste, das Alleinsein mit dem Werk. Es vermittelte ihr ein Gefühl des Friedens, sich völlig auf das zu konzentrieren, was sie mit ihren Händen tat. Dann traten die Welt und ihre Probleme vorübergehend in den Hintergrund, und es gab nur noch sie und dieses Bild.
Während ihrer Arbeit wanderte ihr Blick immer wieder einmal über das Porträt. Dabei lernte sie die Landschaft dieses Meisterwerkes kennen, die tiefe Dunkelheit, von der Nathaniels Kopf umgeben war, die dichten Grau- und Schwarztöne des Rocks, das duftige Weiß und Cremefarben des Hemds. Am liebsten mochte sie sein hübsches gequältes Gesicht. Sie war wie verzaubert von dem leicht rosigen Hauch, der auf seinen Wangenknochen lag, dem dunklen Samt seiner Pupillen, dem undurchdringlichen Braun und Schwarz des Haars.
Wahrscheinlich wäre sie am Ende des Projekts in diesen Mann verliebt, ging es ihr durch den Kopf, als sie ihm nochmals in die Augen blickte.
Denn sie sahen aus wie die von Jack.
Ein paar Stunden später wurde die Stille in dem Atelier gestört.
»Hallo?«, drang Thomas’ Stimme an ihr Ohr. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz raufkomme?«
»Hi! Sie sind jederzeit willkommen.«
Artie, der ihr stundenlang geduldig bei der Arbeit zugesehen hatte, und sie standen auf. Der Hund streckte sich genüsslich und sah aus, als ob er große Hoffnungen mit der Ankunft des Kochs verband.
»Ich bringe Ihnen Ihr Mittagessen«, meinte Thomas, während er, mit einem Picknickkorb und einer Telefondose bewaffnet, die Treppe heraufgepoltert kam.
Artie trottete auf ihn zu, schnupperte vorsichtig an dem Korb, und sein Schwanzwedeln verriet, dass er von den aufsteigenden Düften ganz begeistert war.
»Das ist wirklich nett von Ihnen.« Callie lugte in den Korb, runzelte dann aber verwirrt die Stirn, als sie Thomas unter den Tisch krabbeln sah. »Obwohl es ganz bestimmt nicht nötig war. Äh – ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ich habe ein Telefon für Sie dabei, und jetzt suche ich den Anschluss.« Er streckte den Kopf unter dem Tisch hervor und nickte in Richtung des Korbs.
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