Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Pardon, Mademoiselle Kyria, das Fehlen der oberen Weisheitszähne hat noch nie bei jemandem zum vorzeitigen Ableben geführt.«
»Weisheitszähne? Das verstehe ich nicht. Was haben denn meine Weisheitszähne damit zu tun?«
»Ihr genetischer Defekt. Kein Mensch ist vollkommen, Mademoiselle, kleine Defekte hat jedes Modell von uns. Ihr gravierendster ist das Fehlen der oberen Weisheitszähne, wofür manche Leute sogar ganz dankbar wären, weil die gerne Schwierigkeiten machen und gezogen werden müssen.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand es noch immer nicht.
»Hören Sie, mein Vater ist an seiner Krankheit gestorben. Nicht an fehlenden Weisheitszähnen.«
»Möglicherweise ist er an einer Erbkrankheit gestorben, Mademoiselle, aber entweder hat er sie Ihnen nicht vererbt, oder der Mann war nicht Ihr leiblicher Vater.«
Ich schnappte nach Luft.
»Meine Mutter … «, begann ich.
»Sollten Sie dringend dazu befragen, denke ich.«
»Meine Mutter hat die Untersuchung schon bei meiner Geburt machen lassen.«
»Und man hat ihr gesagt, ihr Kind haben einen Gendefekt geerbt?«
»So hat sie es mir erzählt. Beziehungsweise mich glauben lassen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch denken soll, Dr. Grenouille. Man hat mein ganzes Leben lang versucht, mir klarzumachen, dass ich eine tödliche Krankheit in mir trage. Und meine Duenna hat mir sogar heimlich Digitalis gegeben, damit mir schwindelig wird. Und sie wollte mich glauben lassen, dass ich an einem Hornissenstich sterben würde. Und dann hat sie versucht, mich zu vergiften!«
Ich schrie fast, und Dr. Grenouille stand auf und massierte mir die Schultern.
»Mein Gott, Kind, was hat man Ihnen angetan? Das ist ja kriminell. Das ist ja der reinste Psychoterror.«
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und rang um Fassung.
Wenn das alles wahr war, dann musste irgendjemandem verdammt viel daran liegen, dass ich von dieser Welt verschwand. Die gnädigste Art wäre vermutlich das Noviziat im Tempel gewesen, die radikalste, mich umzubringen.
Die starken Hände des Arztes kneteten sanft meine Muskeln, und langsam beruhigte ich mich wieder.
»Was soll ich nur machen?«, flüsterte ich.
»Weiterleben. Jetzt verstehe ich, warum Reb es mir überlassen wollte, Ihnen die Ergebnisse der Analyse zu erläutern. Er wusste von den Anschlägen auf Sie, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Ich bin ihm im Heilungshaus zum ersten Mal begegnet. Nachdem mir meine Duenna zu verstehen gegeben hatte, dass ich nur noch drei Wochen zu leben hätte.«
»Was für eine bösartige Ratte!«
»Ich habe ihr geglaubt. Und darum wollte ich weg. Ich wollte hier sterben. Reb hat mir geholfen abzuhauen.«
»Und ist selbst seiner Vergangenheit begegnet. Er hatte Angst davor, seinen Vater zu treffen, das haben Sie selbst gesagt.«
»Ja, stimmt. Aber Alvar hat ihn sehr freundlich aufgenommen. Er wird ihn zum Wagenlenker ausbilden, glaube ich.«
»Keine schlechte Beschäftigung für einen heißblütigen jungen Mann.«
»Heißblütig? Der hat Eis in den Adern. Nichts als kaltes Eis.«
»Hat er Sie dermaßen verletzt, Mademoiselle? Das tut mir wirklich leid. Aber vielleicht sollten Sie bedenken, dass er für sein junges Alter schon eine Menge durchgemacht hat und sich dabei vermutlich angewöhnt hat, seine Gefühle nicht zu zeigen. Ich hatte den Eindruck, dass er Sie, trotz seiner uncharmanten Bemerkungen, sehr gerne hat. Wir Männer können manchmal rechte Stoffel sein, wissen Sie.«
Ich erinnerte mich an Rebs verschlossene Miene, die er mir zum Abschied gezeigt hatte.
Und ich erinnerte mich an sein schlafendes Gesicht.
Und ich erinnerte mich daran, wer seine Mutter war und was sie ihm angetan hatte.
Mit einem Mal erkannte ich, dass auch er verletzlich war.
»Fahren Sie auf dem Rückweg dort vorbei?«
Jetzt lächelte Dr. Grenouille. »Nein, meine Liebe. Den postillon d’amour mache ich nicht für Sie. Sie sind durchaus in der Lage, den jungen Rebellen selbst einzufangen. Ein Tipp nur – Alvar hat gute Kontakte zu Leuten in NuYu. Er könnte Ihnen möglicherweise behilflich sein, herauszufinden, wer sie warum bedroht.«
»Richtig, er hat Kontakte. Sogar zu meiner Mutter. Aber darüber muss ich erst noch nachdenken.«
»Tun Sie das, Mademoiselle. Und tun Sie es in dem Bewusstsein, dass Sie eine starke, gesunde junge Frau sind.«
Er machte Anstalten, den Raum zu verlassen, und ich erhob mich, um ihn zur Tür zu begleiten.
TANZABEND
D as Fort la Latte stand seit achthundert Jahren an dem
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